Gestern hat Washington den US-Bürgerinnen und Bürger in Libyen nahegelegt, das Land “unverzüglich zu verlassen.” Die Sicherheitssituation sei “unvorhersehbar und instabil.” Gleichzeitig wurde die USS Bataan mit 1’000 Marines Besatzung zum Bereitschaftsdienst in die Region gesandt, sollte eine Evakuierung nötig werden. Dies ist nur ein neuer Kulminationspunkt einer Krise, die seit Monaten schwelt. Da ich den Eindruck habe, dass nicht sehr prominent (falls überhaupt) über Libyen berichtet wird, hier eine kurze (und zwangsläufig oberflächliche) Anatomie eines auseinanderfallenden Staates.

Tripoli ist vielen Hauptstädten Westeuropas ähnlich nah (oder vielleicht besser: weit weg) wie Kiev. Trotzdem scheinen sich die geopolitischen Sorgenfalten vor allem beim Blick in den Osten zu bilden und viel weniger wenn man in den Süden blickt. Dies soll kein “warum berichten die Medien nicht mehr über…” Eintrag werden. Ich will nur kurz den Schweinwerfer etwas verschieben, weil nach den Ereignissen der letzten Tage (jene, die auch zur Evakuationsaufforderung durch die US Regierung geführt haben) Libyen vermutlich an einem Wendepunkt steht. Ob sich die Dinge zum Guten wenden werden ist im Moment noch ungewiss, die Situation wird als nicht sehr rosig eingeschätzt (pdf, Englisch, Wolfram Lacher für die Stiftung Wissenschaft und Politik).

FCO 312 - Nigeria Travel Advice Ed2 [WEB]

Karte mit den Reisewarnungen für Libyen der Britischen Regierung

 

In den letzten Wochen drohte die Regierung mit dem Bombardement eines unter Nordkoreanischer Flagge fahrenden Öltankers in einem Libyschen Hafen, weil dieser ohne ihre Erlaubnis Öl für lokale Machthaber verkaufen sollte. Der Öltanker wurde am Ende von US Marines gekapert und zurückgebracht. Ein Premierminister wurde von einer Gruppe, die eigentlich für die Sicherheit in der Hauptstadt angeheuert wurden, entführt. Der nächste Premier war nur ad interim eingesetzt, trat dann aber zurück, nachdem seine Familie attackiert und beschossen wurde. Er versprach weiter zu machen bis ein Ersatz gefunden wurde. Dieser Ersatz wurde gewählt (mit Verzögerung, da das unbeliebte Übergangsparlament, an dessen Legitimität es auch Zweifel gibt, nach dem ersten Wahlgang von bewaffneten gestürmt wurde). Es ist aber nach wie vor umstritten, ob er das nötige Quorum tatsächlich erreicht hatte. Dies sind nur ein paar der klarsten Symptome des vorherrschenden Chaos, Symptome die es normalerweise in unsere Nachrichten geschafft haben. Vielleicht nicht prominent, aber es wurde darüber berichtet.

Das grosse Problem ist, dass die Zentralregierung kaum noch Kontrolle ausübt. Ein schwach gehaltener Staat konnte das Gewaltmonopol nach dem Abgang von Gaddafi nicht sichern . Darum bezahlte man Milizen um die Sicherheit zu gewährleisten. Diese Milizen haben sehr unterschiedliche Loyalitäten, verfolgen eigene politische Ziele und sind die einzigen Kräfte mit echter Durchsetzungsfähigkeit. Einen guten Überblick findet man hier (BBC) und hier (Al Jazeera).

Nun hat sich in diesem Chaos die Lage noch zusätzlich zugespitzt. Ein abtrüniger General (Khalifa Haftar)1 hat beschlossen in Benghazi eine Bombenkampagne gegen, gemäss eigenen Angaben, islamistische Milizen zu starten. Dies hat die Luftwaffe dazu gebracht, eine Flugverbotzone gegen sich selber über der Stadt auszurufen. Innerhalb von zwei Tagen gab es Kämpfe in Tripoli. Anhänger des General stürmten dabei das Parlament. Ein bisschen später flauten diese Kämpfe zwar wieder ab, doch brodelt der Vulkan weiter und die Gewalt kann jederzeit erneut ausbrechen. Inzwischen haben sich diverse Minister, Milizen oder eine militärische Spezialeinheiten auf die Seite des Generals Haftar gestellt. Gleichzeitig hat das Übergangsparlament, trotz Gewaltandrohung getagt und dem neuen Premier und sein Kabinett das Vertrauen ausgesprochen (Guardian und Al Jazeera). Für Ende Juni sind Neuwahlen des Übergangsparlamentes angesagt.

Die komplexen und fluiden Fronten scheinen sich mehr und mehr entlang dem Graben der Anti-Islamisten (der General Haftar und seine Anhänger) einerseits, und den Islamisten eher wohlwollend gesinnten Milizen und Gruppen (unter anderem das Parlament, der neue Premier oder eine schlagkräftige unter dem Namen Libyan Revolutionary Operation Room bekannte Miliz) anderseits zu formieren. Dies ist aber im besten Fall eine Orientierungshilfe. Eine Analyse die die Situation auf Pro-Islamisten gegen Anti-Islamisten verkürzt ist zu simplistisch und wird dem hochkomplizierten Gewirr von Allianzen und Loyalitäten in Libyen nicht gerecht.

Nun was tun die westlichen Staaten, war doch die NATO nicht ganz unbeteiligt bei der Entstehung dieser Situation (wir erinnern uns)? Nicht viel. Es ist auch nicht klar wie viel sie tun könnten. Im Moment klammert man sich an die Hoffnung einen Dialog zwischen den verschiedenen Kräften herbeizuführen. Die Erfolgsaussichten sind im Moment nicht sehr gut (zum Beispiel im Eingangs verlinkten Papier der SWP wird argumentiert, dass ein solcher Dialog von den Libyern selbst kommen müsste). Die Alternative ist wohl, dass sich die militärisch Stärkeren durchsetzen werden. Es bleibt zu hoffen, dass nicht in einem innerlibyschen Kräftemessen herausgefunden werden muss, wer der Stärkere ist. Die Frage könnte sich in den nächsten Tagen beantworten.

1 Dieser General ist eigentlich ein eigener Eintrag wert: In Gaddafis Auftrag kämpfte er in Tschad, wurde von Gaddafi verstossen, wendete sich gegen diesen, organisierte einen bewaffneten Widerstand aus Tschad und lebte dann über 10 Jahre in den USA. Eine ausgezeichnete Nährlösung für Verschwörungstheorien und darum nicht gerade legitimitätsfördernd.

Nachtrag: Für jene, die auf Twitter sind und die Ereigniss in Libyen genauer mitverfolgen möchten, habe ich eine Liste (auf Englisch) erstellt. Darauf befinden sich auch mehrere fleissig tweetende Korrespondentinnen und Korrespondenten von grösseren Zeitungen. Für mich ist das im Moment eine der besten Informationsquellen zu Libyen.

Kommentare (18)

  1. #1 Gerald Fix
    Mai 28, 2014

    Im Moment klammert man sich an die Hoffnung einen Dialog zwischen den verschiedenen Kräften herbeizuführen. … Die Alternative ist wohl, dass sich die militärisch Stärkeren durchsetzen werden.

    Und wenn der Dialog nicht zustande kommt und sich auch niemand durchsetzt? Ein permanenter Bürgerkrieg mit regionalen Warlords?

    Die Frage bleibt auch, ob das mit Gaddafi und ohne westliches Eingreifen so sehr anders gelaufen wäre. Syrien scheint zu zeigen: Nein.

  2. #2 Dr. Webbaer
    Mai 28, 2014

    Ihr Kommentatorenfreund kann sich erinnern diese Konsequenz [1] vor einigen Jahren, auch auf Tunesien bezogen, erahnt und benannt zu haben.
    Vgl. auch mit Ländern wie Syrien.

    MFG
    Dr. W

    [1] bezogen auf einen so genannten Frühling

  3. #3 Roland B.
    Mai 29, 2014

    Kam davon – außer über den meuternden General – irgendwas in unseren Nachrichten oder habe ich das einfach alles verpennt?

  4. #4 michael
    Mai 29, 2014

    @Roland B
    > Kam davon – außer über den meuternden General – irgendwas in unseren Nachrichten ?

    Ja, zb. :
    https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/afrika/bewaffnete-stuermen-parlament-in-lybien-12916809.html

  5. #5 ali
    Mai 29, 2014

    @Gerarld Fix

    Die Frage bleibt auch, ob das mit Gaddafi und ohne westliches Eingreifen so sehr anders gelaufen wäre. Syrien scheint zu zeigen: Nein.

    Solche kontrafaktische Analysen bringen halt immer mit sehr viel Unsicherheit mit. Ich würde sagen die Armee spielt in Syrien eine ganz andere Rolle (bin mir aber nicht einmal sicher ob das eher den Effekt verstärkt hätte oder nicht). Dann stellt sich auch die Frage nach was “eingreifen” in diesem Kontext heisst (da auch im Syrischen Kontext weder Russland noch die USA völlig tatenlos zusehen).

    Vielleicht könnte man meine Nato Bemerkung so ausformulieren: Die Nato hat mit dem Ziel Gaddafi von der Macht zu entfernen eingegriffen, wollte aber keine “boots on the ground”. Das gewünschte Ziel ist auch eingetreten aber wie die USA im Irak scheint man unvorbereitet in die Post-Konflikt Phase gegangen zu sein. Somit hat die Nato in meinen Augen auf jeden Fall Mitverantwortung.

    @Roland B

    Ich konsumiere deutschsprachige Medien sehr unsystematisch. Trotzdem mein Eindruck war, dass darüber berichtet wurde, aber wenig erklärt und eher kurz. Es ist so die Art Meldungen die ich typischerweise nur kurz überfliege, weil ich sie in der Regel überhaupt nicht in einen Kontext setzen kann.

    Ich würde sagen im englischsprachigen Raum sah es ähnlich aus. Nicht mal in den USA in denen der Pseudoskandal Benghazi politisch nach wie vor ausgeschlachtet wird und daher eine “Namenserkennung” existieren würde, habe ich sehr viel darüber gelesen.

    Es gab schon vor allem in den letzten Wochen bei grösseren Ereignissen Berichte dazu (Öltanker, Angriff auf PM, etc.), ich glaube aber dass man den Kontext vermied (weil tatsächlich schrecklich undurchsichtig).

  6. #6 ali
    Mai 29, 2014

    Ich habe noch in einem Nachtrag meine Twitterliste zu Libyen verlinkt, als zusätzliche Informationsquelle für jene, die die Situation etwas genauer verfolgen möchten.

  7. #7 Hobbes
    Mai 29, 2014

    “aber wie die USA im Irak scheint man unvorbereitet in die Post-Konflikt Phase gegangen zu sein.”

    Die Frage ist auch, ob man überhaupt vorbereitet in diese Phase gehen kann. Es ist eine typische Situation in der man nur verlieren kann. Auch wenn im Falle des Iraks die Amerikaner wirklich sehr blauäugig waren. Viele glaubten anscheinend wirklich sie würden als Befreier gesehen.
    Es ist halt relativ simpel (und dadurch gleichzeitig so kompliziert) Wenn ein Machtvakuum entsteht versuchen viele dieses zu füllen. Durchsetzen wird sich immer der Entschlossenere. Wenn wir in so einem Konflikt mit mischen, ist unsere Entschlusskraft schon einmal sehr stark durch die Menschenrechte eingeschränkt. (oder dem Bedürfnis diese zumindest nach außen zu wahren)
    Also müssen wir um so mehr Geld und Soldaten einsetzen.
    Auf der Gegenseite ist es genau so. Solange diese entschlossen ist zu Gewinnen wird sie immer unmenschlicher vorgehen müssen, wenn es ihr an Geld oder Armeen fehlt. Denn an einem Feindbild um damit die Grausamkeiten zu rechtfertigen fehlt es ihnen nicht.

    “mein Eindruck war, dass darüber berichtet wurde, aber wenig erklärt und eher kurz”
    Ich verfolge die deutschen Medien eigentlich recht ausführlich und kann die Meinung nur bestätigen. Seit der Diktator weg ist, ist dieses Land nur noch eine Randnotiz. Was jedoch aktuell auch eher an Syrien und der Ukraine liegt.

  8. #8 Gerald Fix
    Mai 29, 2014

    zu #5 Somit hat die Nato in meinen Augen auf jeden Fall Mitverantwortung.

    Verantwortung oder Schuld? Mitschuldig ist die NATO zweifellos. Schuld ist nämlich auch eine moralische Kategorie. (Gut gemacht, Herr Westerwelle.)

    Verantwortlich ist die NATO für nichts mehr. Zur Verantwortung gehört Handlungsfähigkeit und die scheint der NATO inzwischen vollkommen abzugehen.

  9. #9 roel
    *****
    Mai 29, 2014

    @Ali Arbia Vielen Dank für die Einblicke und für die Twitterliste.

  10. #10 G.K.
    Mai 30, 2014

    Was ich schwierig zu durchschauen finde, ist, nach welchen Gesichtspunkten die Fronten verlaufen, dh welche Gruppen, Stämme, Völker einander feindlich oder freundlich gesinnt sind, miteinander koalieren, oder sich bekämpfen. Sind dies Feindschaften von altersher, die nur neu aufbrechen, nachdem das Ghaddafi-Regime beseitigt wurde, oder sind dies Gegnerschaften, die von aussen (Nato, USA etc.) gesteuert werden.

  11. #11 ali
    Mai 30, 2014

    @Hobbes
    Re: Randnotiz: Danke für die Bestätigung.

    @Gerald Fix

    Genau weil er so beladen ist, versuche ich den Begriff “Schuld” zu vermeiden.

    @G.K.

    Es ist tatsächlich extrem schwierig (vielleicht gar unmöglich) die schnell wechselnden Allianzen und Frontlinien vollständig zu verstehen und ich habe nicht selten den Eindruck, dass es auch in Libyen unter den Akteuren nicht wirklich jemanden gibt, der dies vollständig auf einer Makroebene versteht. Dies macht die Situation natürlich noch unberechenbarer als das sie es sowieso schon ist.

  12. #12 ali
    Mai 30, 2014

    Hier eine gute Zusammenfassung von Reuters zur neusten Eskalation (Libyen hat jetzt, als wäre nicht alles schon kompliziert genug, zwei Premierminister).

    Der Economist hat zudem was zur Pressefreiheit und der Ermordung von Journalistinnen und Journalisten gebracht (das letzte Opfer war eine TV Moderatorin, die gestern ermordet aufgefunden wurde).

  13. #13 Trottelreiner
    Mai 30, 2014

    @G.K.:
    Naja, ich denke eher, daß sich die internen Grenzziehungen aus aktuellen Überlegungen ergeben werden, daß man dafür dann gerne Konfikte von annodazumal hervorkramt wäre natürlich zu erwarten.

    Ganz nach Bedarf dann “Die Untertanen des Heilligen Römischen Reiches deutscher Nation werden es dan Bayern ja nier verzeihen, daß sie sich in den napoleonischen Kriegen auf die Seite der Franzmänner geschlagen haben.” oder “Die Bayern sind ein wichtiger Teil der deutschen Identität”. 😉

  14. #14 Ralph
    Juni 2, 2014

    Ein paar Fragen.

    Wie hätte es in Libyen laufen können? Angenommen Gaddafi wäre gestorben, sein (fiktiver) Sohn, ein studierter Politikwissenssenschaftler und Historiker wäre an die Macht gekommen, mit dem Vorsatz Lybien soll bis 2025 die Aufnahmekriterien der EU erfüllen.
    Hätte er eine Chance gehabt?
    Was hätte er tun müssen?
    Ist Rohstoffreichtum ein Hindernis auf dem Weg zur Demokratie, da er Korruption begünstigt und zentrale Machtstrukturen stabilisiert?

    Einem Land ohne gewachsene demokratische Strukturen scheint es nicht viel zu nutzen den Diktator zu los zu werden.
    China scheint auf dem richtigen Weg zu sein. Man sieht den Balanceakt einer starken Zentralregierung, die Macht allmählich zu dezentralisieren (=demokratisieren), durch Einsicht oder Sachzwänge. Wobei die “Sachzwänge” sich wohl hauptsächlich daraus ergeben, dass die Menschen sich im Internet informieren, verständigen und solidarisieren können.

  15. #15 katastrophenfehler
    Juni 2, 2014

    Tripoli = Stadt in Libanon
    Tripolis = Hauptstadt in Libyen

  16. #16 ali
    Juni 2, 2014

    @katastrohpenfehler

    Ja, aber im original gibt es keinen Unterschied zwischen der Stadt im Libanon (ja ich glaube es ist im und nicht in) und jener in Libyen. Ist also eine Frage der Transkription/Konvention. Da ich fast nur englischsprachige Quellen zu Libyen nutze, ist dies jene die ich gewohnt bin.

    Ach ja, in Griechenand gibt es auch noch ein Tripoli. Wie unterscheidet man jenes von Tripoli im Libanon?

  17. #17 Randifan
    Juni 3, 2014

    Gaddafi war ein Spinner, aber die jetztige “Justiz” scheint seinem Irrsinn zu folgen. Ein UN-Beobachter wurde wegen angeblicher schwarzer Magie verhaftet, er beobachtete den Prozess gegen 2 Söhne Gaddafis.
    https://www.theguardian.com/world/2014/may/13/un-observer-gaddafi-trial-detained-suspicion-black-magic

  18. #18 Trottelreiner
    Juni 4, 2014

    @Randifan:
    Wobei der Herr wohl wieder auf freiem Fuß ist:

    https://www.theguardian.com/world/2014/may/29/libya-apologises-united-nations-officer-suspicion-black-magic-gaddafi-trial

    Wobei man daraus machen kann was man will, eventuell waren die Gefängniswächter wirklich so abergläubisch (oder Salafis, aber ich wiederhole mich), eventuell ist eine Anklage wegen “schwarzer Magie” vielleicht auch das dortige Äquivalent zu “ihr Nummernschild ist unleserlich, wollen sie mal eben blasen?”. Zumindest wäre es ein guter Vorwand, um das Kassiber genauer zu untersuchen, bei Gefängniswärtern immer eine beliebte Beschäftigung, aber dazu müsste man die genauen Umstände und eventuellen Gewohnheiten besser kennen.

    Zumindest zeigt es die öfters chaotischen Umstände.