Dies zeigt etwas wichtiges, das oft ignoriert wird: Identität, selbst wenn man sie in eine grobschlächtigen Kategorie wie “Nation” zwingen möchte, ist immer mehrschichtig. Ist die Genferin im Ausland, beschreibt sie sich vermutlich zuerst als Schweizerin. In der Schweiz ist sie jedoch ebenso oder oft sogar zuerst Genferin. Beide Identitäten existieren problemlos nebeneinander. Sowie der Schweizer Psalm parallel zu Cé qu’è lainô existieren kann. So wie man am Wochenende um den 12. Dezember den Genfer “Nationalfeiertag” zelebrieren kann und am 1. August auch für die Schweiz Feuerwerk steigen lassen darf. Genf kann die alte Republik und ein Schweizer Kanton gleichzeitig sein. Diese problemlose Vielschichtigkeit ist was die meisten am Konzept Integration nicht verstehen. Sie glauben ganz fest an eine Exklusivität, an ein Entweder-Oder, das nur in ihren Köpfen existiert. Es ist eine Form des selben essentialistischen Denkens, das leider viel zu oft mit angeblich gesundem Menschenverstand verwechselt wird.
Solche multiple Identitäten decken noch viele andere Bereiche ab. Das Beispiel der dezentralen Schweiz ist insofern illustrativ, weil es sogar auf verschiedenen Ebenen mit jeweils der gleichen romantischen Nationalstaatensymbolik spielt. Der grösste Teil meiner Steuern geht nicht an den Zentralstaat, sondern an meinen Wohnkanton. Die Kantonshymne meines Geburtskantons kann ich immer noch vollständig auswendig, die Schweizer Nationalhymne konnte ich nie über die erste Strophe hinaus. Obwohl ich seit vielen (vielen) Jahren in Genf lebe, kann man an meinem Alemannischen immer noch leicht feststellen (vorausgesetzt man kennt sich aus), in welchem Teil meines Herkunftskantons ich aufgewachsen bin (auf vielleicht 20 Kilometer genau).
Dies erklärt in meinen Augen ein wichtiges Stück Schweiz: Ich habe mir teilweise die lokale Identität meines Herkunftsortes erhalten obwohl ich fast ebenso lange im französischsprachigen Raum in Genf lebe. Dies hält mich nicht davon ab, einmal im Jahr die Zurückschlagung der Savoyarden vor über 400 Jahren aus der Stadt Genf mitzufeiern (mit der allgemein für solche Polit-Mythologie nötigen ironischen Distanz natürlich). Dies hält mich natürlich auch nicht davon ab am Escalade Lauf teilzunehmen.
Ein Lauf übrigens, der 412 Jahre nach dem gescheiterten Versuch des Duc von Savoyen Genf einzunehmen, zu 18% von Läuferinnen und Läufern aus Frankreich bestritten wurde.
1Keine Sorge liebe Zahlen-Nerds, die Nummerierung wird ab nun fortlaufend sein.
2Wer des Französischen mächtig ist, wird wesentlich detaillierte Informationen im Wikipedia Eintrag auf Französisch dazu finden.
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