Im letzten Research Running Eintrag habe ich behauptet es brauche inzwischen eine grössere Überwindung nicht Laufen zu gehen. Nun das war vielleicht ein bisschen gelogen. Es gibt einen kalten, für Genf typischen Wind. Er wird “La Bise” genannt und wirbelt den Genfersee normalerweise heftig auf. Wenn er ganz kräftig bläst, dann bezeichnet man ihn als “Bise Noire”
Es gibt dazu auch ein Bier und viele sind vermutlich im Internet schon einmal über ein Bild gestolpert von Autos, deren Form man nur noch erahnen kann, die sich aber ganz gut als Eiswürfel in einem Drink machen würden. Wenn die schwarze Bise also den See über die Uferböschung peitscht und die Temperaturen im Unternull-Bereich sind, dann formen sich wunderschöne Eisskulpturen am Ufer. Ästhetisch ist dieses Phänomen zweifelsohne sehr reizvoll, obwohl man aufpassen muss, wo man sein Auto parkt. Dummerweise führen mehrere meiner regulären Trainingsstrecken am See entlang. Bei einem Windchill der die tiefen Temperaturen gleich nochmals 4 oder mehr Grad runterdrückt, die Aussicht auf einen Eis Hindernislauf und Böen die schon mal bis zu 80 Km/h und mehr haben (die gemessenen Spitzen waren bei 120 Km/h), da überlege auch ich mir zweimal ob ich nun wirklich rausgehen möchte um zu laufen.
Vorletzte Woche war nun eben diese Bise Noire am wüten. Das Problem umgehe ich mit zwei Strategien: Einer guten Wettervorhersage und einer Anpassung der Route. Für ersteres benutze ich WeatherPro auf meinem Telefon (kennt ihr eventuell sogar bessere Alternativen?). Der Wind ist meist nicht den ganzen Tag gleich stark und ich kann also die schlimmsten Böen vermeiden indem ich entsprechend plane. Die zweite Strategie ist eigentlich eine Flucht. Wie man sieht, habe ich mich ins bewaldete Hinterland entlang der Rhone geflüchtet. Dort wütet die Bise beträchtlich weniger. Mit diesen beiden “workarounds” kam ich so doch nicht zu meinem ersten Ruhetag in diesem Jahr.1
Nun war ich am Sonntag trotzdem kurz am See am Quai Wilson. Die Genfer Seepromenade hat ihren Namen vom US Präsidenten Woodrow Wilson. Genf hätte ohne Wilson wohl kaum die Internationale Bedeutung, die es heute besitzt. Wilson hat damals (gegen die öffentliche US Meinung) den Völkerbund vorangetrieben und sich für Genf als dessen Sitz eingesetzt. Das alte Völkerbundsgebäude, der Palais Wilson, ist an eben diesem Quai Wilson gelegen (gleich neben dem Hotel Président Wilson, das hier in anderem Zusammenhang schon einmal Thema war) und ich laufe regelmässig daran vorbei.
Und als mir der stramme Genfer Nodwind ins Gesicht schlug, dachte ich, dass der Palais Wilson eine schönes Symbol für ein interessantes Phänomen in den internationalen Beziehungen ist: Wie das Gebäude seit bald hundert Jahren der fiesen Bise trotzt, so scheinen viele Institutionen kaum unterzukriegen sein. Schliesslich wurde sogar der Völkerbund, nachdem er sich als Desaster herausstellte, nicht einfach aufgelöst, sondern von einer ähnlichen Institution, den Vereinten Nationen, abgelöst (die UNO und der Völkerbund existierten sogar eine kurze Zeit zusammen).
Der Quai Wilson bei Bise und Temperaturen unter dem Gefrierpunkt
Nun wenn man “Institutionen” sagt, meint man in der Alltagssprache meist tatsächlich etwas, das durch ein Gebäude repräsentiert ist. In Internationalen Beziehungen wird der Begriff weiter gefasst. Man spricht anstelle von “Institution” von Regime und der Regime-Theory. Ein klassische Definition von Regime (oder Institution) gibt uns Stephen Krasner (1982):
sets of implicit or explicit principles, norms, rules, and decision-making procedures around which actors’ expectations converge in a given area of international relations.
Man sieht, dass diese Definition ein weites Spektrum abdeckt: Von “Stein und Mörtel”-Koloss wie der UN über weniger formelle Gruppierungen, wie die diversen G’s bis zu Institutionen wie das Kriegsrecht oder weniger regelmässiger aber nirgends festgeschriebener Zusammenarbeit zwischen Staaten.
Was mich faszniert ist, wie harntäckig sich solche Institutionen halten. Es gibt unzählige Beispiele dafür: Der Völkerbund der nach seinem Scheitern von den Vereinten Nationen abgelöst wurde (der Palais Wilson beherbergt heute übrigens das Hochkomissariat für Menschenrechte der Vereinten Nationen (UNHCHR)). Der Internationale Währungsfonds, dessen Zielsetzung 1973 einfach mal in das fast Gegenteil umdefiniert wurde. Der Weltpostverein (1874), die Interparlamentarische Union (1889) oder die Internationale Organisation für Arbeit (1919), die alle drei trotz eines völlig neuen Kontextes immer noch funktionieren.
Die Kehrseite der Medaille ist, dass es extrem schwierig ist, solche Praktiken zu ändern. Organisationen können von innen nur langsam und sehr schwer reformiert werden. Eine gutes Beispiel dafür ist die New Yorker Notenbank. Trotz eines klaren und ausführlichen Berichts, der dessen Rolle in der Finanzkrise von 2008 analysiert und akzeptierten Empfehlungen, scheint sich kaum etwas bewegt zu haben, wie eine faszinierende Folge von This American Life auf der Basis von verdeckten Gesprächsaufzeichnungen gut darlegt.
Das ist auch ein problematischer Aspekt von so mancher Bürokratie im Allgemeinen und der UN im Speziellen. Ich hatte vor kurzem in der Diskussion mit einem Freund (und IB Kollegen) krampfhaft nach einem Beispiel gesucht, wo eine solche Organisationskultur erfolgreich geändert wurde. Uns fiel trotz aller Anstrengung kein gutes Beispiel aus den Internationalen Beziehungen ein (vielleicht finden wir in den Kommentaren eines).2 Dies Trägheit ist eine “Wahrheit” die man beim Beobachten des Weltgeschehens leicht vergisst: Die Brüche, Krieg und Krisen machen die Schlagzeilen und hinterlassen den Eindruck einer unregulierten Wildnis. Beständigkeit und Kontinuität sind aber eigentlich viel typischer für die Internationalen Beziehungen, sie machen nur weniger Aufsehen. Nicht zuletzt darum ist Genf immer noch auf der Weltkarte der internationalen Diplomatie.
1Ich weiss, dass die meisten Trainingsprogramme einen Ruhetag pro Woche vorsehen. Ich habe einmal versucht entsprechende wissenschaftliche Literatur zu finden, blieb aber erfolglos. Wenn jemand also brauchbare Studien zu den Vor- und Nachteilen von Ruhetagen, wäre ich sehr interessiert an entsprechenden Links.
2 Ein Beispiel aus der Privatwirtschaft wäre die Kulturänderung die angeblich in dieser Barilla-Fabrik stattgefunden hat und über die der Planet Money Podcast hier berichtet. Die Geschichte ist hörenswert aber es bleibt zuerst einmal eine schöne Geschichte. Ich frage mich was die Lektionen wären und inwiefern diese auf andere Situationen übertragbar sind.
Weitere Einträge aus der Serie:
Folge 0 (Astrodicticum): Moose, Flechten und die große Sauerstoffkatastrophe
Folge 0 (zoon politikon): Ein Savoyardischer Angriff auf Genf und nationale Identitäten
Folge 1 (Astrodicticum): Der Saaletal Wintercrosslauf und die vielen Besonderheiten des Wassers
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