Im vierten Gaia-Artikel hatte ich schon darüber berichtet, dass das Team von Laura Watkins mit Hilfe der DR2-Daten eine Masse der Milchstraße von 1,67 +0,79/-0,5 Billionen Sonnenmassen gefunden hatte. Florian und die Medien berichteten kürzlich von einer Arbeit, in der Ekta Patel & Team auf 0,96 +0,29/-0,28 Billionen Sonnenmassen gekommen seien. Diese Arbeit war vor der Veröffentlichung von DR2 erstellt und eingereicht worden und hat engere Konfidenzintervalle, die sich aber mit den weiteren Fehlerintervallen der Watkins-Arbeit überschneiden (0,96+0,28 = 1,25 > 1,17 = 1,67-0,5) und solche Intervalle sind ohnehin keine scharfen Grenzen, sondern die Standardabweichung (1 σ) der geschätzten Wahrscheinlichkeitsverteilung der Messfehler.
Zusammen betrachtet sprechen die beiden Ergebnisse also für eine Milchstraßenmasse in der Gegend von 1,2 Billionen Sonnenmassen. Es gibt aber, wie Daniel Fischer (@cosmos4u) anmerkte, noch ein paar weitere Arbeiten, welche die Milchstraßenmasse mit Hilfe der Gaia-DR2-Ergebnisse zu bestimmen versuchten. Schauen wir uns zwei davon näher an.
Übrigens: Ich höre ab jetzt damit auf, die Gaia-Artikel zu nummerieren. Ursprünglich sollten es nur 3 oder 4 Artikel werden, aber das Thema hat sich für mich zum Selbstläufer entwickelt und wird von der Presse etwas stiefmütterlich behandelt. Da halte ich mal dagegen und führe das Thema einfach weiter, solange was interessantes Neues kommt. Ende offen.
Mass and shape of the Milky Way’s dark matter halo with globular clusters from Gaia and Hubble
Wie in der Watkins-Arbeit werden in der Arbeit von Lorenzo Posti und Amina Helmi [1] die Messungen der Raumbewegungen von 75 Kugelsternhaufen aus Gaia DR2 verwendet, die von der Gaia Collaboration schon vor dem offiziellen Release bestimmt und als Showcase mit dem DR2-Release veröffentlicht worden waren; die Koautorin Amina Helmi war an diesem Paper bereits mitbeteiligt. Die Autoren schwärmen zu Beginn der Arbeit davon, dass die Gaia-Messungen die Tangentialbewegung eines Kugelsternhaufens (also die Bewegung in der Himmelsebene, senkrecht zur Sichtlinie) in 10 kpc (32600 LJ) Entfernung noch auf 0,5-2 km/s genau bestimmen können, was ansonsten erst Anfang des Jahres für 20 Kugelsternhaufen mit Hilfe des Hubble-Weltraumteleskops gelungen sei. Ziel der Arbeit sei, nicht nur die Gesamtmasse der Milchstraße, sondern auch die Verteilung der Masse im Halo zu bestimmen. Dazu verwenden sie die Daten der 75 DR2-Kugelsternhaufen und 16 der Hubble-Kugelsternhaufen, sowie von 52 Gaia-Kugelhaufen, für die keine Eigenbewegungsdaten (Tangentialgeschwindigkeiten), sondern nur Radialgeschwindigkeiten vorliegen – dass man auch damit arbeiten kann, haben wir bei NGC-1052-DF2 gesehen. Macht zusammen 143 Kugelsternhaufen, was eine fantastische Datenbasis ist (Watkins et al. verwendeten gerade einmal 46).
Wie schon bei der Watkins-Arbeit gesehen, kann man nicht einfach die Bahnen der Kugelsternhaufen bestimmen und aus den Keplerschen Gesetzen wie bei Doppelsternen auf die umkreiste Masse schließen, denn die Kugelhaufen bewegen sich innerhalb des Milchstraßenhalos, in dem der Großteil der Masse steckt, und man weiß nicht, wie die Masse darin verteilt ist. Sie beschreiben deshalb keine Keplerbahnen: die Masse außerhalb ihres Abstands vom galaktischen Zentrum “spüren” sie nicht, so dass die wirksame Masse mit zunehmender Annäherung an das galaktische Zentrum immer kleiner wird.
Die Autoren gehen deshalb folgendermaßen vor: sie zerlegen die Milchstraße in 5 einzelne Bestandteile (Gasscheibe, dünne und dicke Sternenscheiben, ellipsoider Kern (“Bulge”) und Halo) und beschreiben sie mit separaten Formeln, welche die Dichte in Abhängigkeit vom Abstand zum Zentrum und der Höhe über der galaktischen Ebene angeben. Für die Massenverteilung in den Scheiben und dem Bulge greifen sie auf Ergebnisse früherer Arbeiten zurück, die auf der Bewegung von 200.000 Sternen in der Sonnenumgebung beruhen. Für die Verteilung der Masse im Halo greifen sie, wie Watkins, auf das Modell nach Navarro, Frenk und White (NFW) zurück, erlauben aber auch Rotation und Abplattung des Halos. Die Formel zur Beschreibung des Halos hat 8 Unbekannte. Diese werden mit Methoden der Statistik ermittelt.
Als Analogon stelle man sich vor, jemand habe eine unbekannte Zahl Würfel, die immer wieder geworfen würden und wir hätten keine Idee, wieviele Würfel es sind. Die Person teilt uns immer nur die Summe der Augenzahlen mit, und wir sollen herausfinden, wieviele Würfel es sind. Wir können modellieren, dass es N Würfel sind, die jeweils die Augenzahlen 1 bis 6 anzeigen, und dann berechnen, mit welcher Häufigkeit welche Augensumme in Abhängigkeit von N herauskommt. Beispielsweise kann die Zahl N nur einmal auftreten – wenn alle Würfel den Wert 1 haben. Die Zahl N+1 tritt nur dann auf, wenn alle bis auf einen Würfel 1 anzeigen, und dieser die 2. Das kann jeder der N Würfel sein, also gibt es N Möglichkeiten, N+1 als Augensumme zu erhalten, usw. Es ergibt sich für verschiedene N eine unterschiedliche Häufigkeitsverteilung für die Augensummen. Wenn man die Verteilung der uns mitgeteilten Augensummen mit denen der für verschiedene N berechneten Häufigkeitsverteilungen vergleicht, kann man das N finden, das am besten passt. Wer schon einmal davon gehört hat: dafür verwendet man beispielsweise den Kolmogorow-Smirnow-Test.
Bei den Kugelsternhaufen entspricht jeder Kugelsternhaufen einem Würfelwurf. Wir haben insgesamt 143 Kugelhaufen, also so viele Datenpunkte. Anstelle der Augensumme der Würfel werden die Häufigkeiten betrachtet, die Kugelhaufen in gewissen Abständen vom galaktischen Zentrum und mit gewissen Geschwindigkeiten in den drei Raumrichtungen zu finden (in Kombination heißt das, mit gewissen Drehmomenten J im sogenannten “Phasenraum” – Florian hat darüber schon einmal etwas geschrieben). Die Autoren haben dazu die Häufigkeitsverteilung von J in Abhängigkeit von der Halomasse und deren räumlicher Verteilung gemäß den 8 Freiheitsgraden in Formeln gefasst. Dabei wird noch aufgrund der Ergebnisse einer Arbeit von 1985 zwischen zwei Populationen von Kugelhaufen unterschieden: einer metallärmeren, die zum Halo gehört, und einer metallreicheren, die eher in der Ebene der galaktischen Scheibe zu finden ist. Und dann haben sie ausgehend von geschätzten Startwerten für die 8 Parameter eine Näherung gefunden, die zu der Verteilung der Abstände und räumlichen Geschwindigkeiten der 143 Kugelsternhaufen passt. Das Ergebnis der besten Näherung sieht man in den folgenden Bildern; die modellierten Kurven (schwarz) geben die beobachteten (rot) sehr gut wieder:
Die Autoren finden mit den modellierten Parametern eine Masse von 190 +17/-15 Milliarden Sonnenmassen innerhalb 20 kpc Radius (enthält die gesamte Milchstraßenscheibe), davon 137 ±12 Milliarden als Dunkle Materie und 46 +21/-18 Milliarden in Form von Sternen, Planeten, Gas und Staub (und uns). Die Gesamtmasse der Milchstraße bis ca. 300 kpc Radius (knapp 1 Million LJ) beträgt 1,3 ±0,3 Billionen Sonnenmassen. Der Milchstraßenhalo soll leicht ellipsoid abgeflacht sein, so dass der Durchmesser 1,22 ±0,23 mal der Höhe entspricht, und seine Materiedichte nimmt mit r-3,3 mit dem Abstand r vom Zentrum ab. Er rotiert höchstens langsam (< -15 km/s) in Gegenrichtung zur Milchstraße, könnte aber auch in Ruhe sein.
Gaia DR2 Proper Motions of Dwarf Galaxies within 420 kpc: Orbits, Milky Way Mass, Tidal Influences, Planar Alignments, and Group Infall
Während der obige Ansatz dem von Watkins ähnelt, indem er Kugelsternhaufen betrachtet, betrachten T.K. Fritz, G. Battaglia, M.S. Pawloski und 5 andere [2] die Bewegung von Zwerggalaxien der Milchstraße innerhalb von 420 kpc, was schon weit jenseits des Halos reicht. Gaia hat noch für so weit entfernte Objekte brauchbare Eigenbewegungen messen können. Insgesamt 39 Zwerggalaxien werden betrachtet, der größte Teil der Galaxien innerhalb von 420 kpc (1,37 Millionen LJ). Ausgelassen wurden unter anderem die Magellanschen Wolken, weil ihre internen Strömungen die Messungen verfälschen, sowie solche Galaxien, die zu weit entfernt oder zu lichtschwach für Gaia sind.
Außerdem mussten die Galaxien jeweils mindestens 2 Sterne enthalten, deren Spektrum von Gaia bestimmte wurde, so dass die Radialgeschwindigkeit berechnet werden können. Um sicher zu stellen, dass es sich bei den Sternen tatsächlich um Riesen in den Galaxien handelt und nicht um lichtschwächere Vordergrundsterne, wurde untersucht, ob die Parallaxe der Sterne zu derjenigen der Galaxie passt, die Eigenbewegung umgerechnet auf die Raumgeschwindigkeit in der entsprechenden Entfernung nicht zu groß ist, und ob ein Stern zu den anderen in der Galaxie keine zu große Abweichung in der Eigenbewegung zeigt. Wenn nicht genug Sterne der Galaxie mit gemessenen Spektren im Gaia-Katalog gefunden wurden, dann wurde die Eigenbewegung mit der von benachbarten Sternen ohne Gaia-Spektrum verglichen, die selbst nicht für weitere Messungen verwendet wurden.
Anhand der Eigenbewegungen und Radialgeschwindigkeiten der Riesen (meist einige Zehn, in einigen Fällen mehrere Hundert und in zweien mehr als tausend pro Galaxie) wurden die Raumbewegungen der Galaxien bestimmt. Die dazu notwendigen Entfernungen der Galaxien wurden früheren Arbeiten entnommen; wohl meistens auf Cepheiden beruhend – der Gaia-Parallaxe wollte man auf diese großen Entfernungen dann doch nicht mehr trauen. Um die Fehlerintervalle der so bestimmten Geschwindigkeiten abzuschätzen, wurden die Unsicherheiten in der Entfernung und der Bewegung der Sonne um die Milchstraße als Gaußverteilungen um die Messwerte mit Standardabweichungen gemäß dieser Unsicherheiten modelliert und dann gemäß dieser Gaußverteilungen mit einem Zufallsgenerator jeweils 2000 zufällige Geschwindigkeitswerte bestimmt. Die Standardabweichung dieser Geschwindigkeiten um den Messwert entspricht dann der Unsicherheit des Messwerts.
Das folgende Bild zeigt die so bestimmten Raumgeschwindigkeiten im Vergleich zur Fluchtgeschwindigkeit der Milchstraße (nach NFW-Modell) in der angegebenen Entfernung für Milchstraßenmassen von 0,8 (schwarze Linie) und 1,6 Billionen Sonnenmassen (rote Linie):
Es liegt eine recht große Zahl von Zwerggalaxien oberhalb der Fluchtgeschwindigkeit einer Milchstraße mit nur 0,8 Billionen Sonnenmassen, erheblich weniger (insbesondere, wenn man die Fehlerbalken mit berücksichtigt) oberhalb der Fluchtgeschwindigkeit einer Milchstraße von 1,6 Billionen. Man kann für eine einzelne Galaxie nie ausschließen, dass sie aus der Ferne auf die Milchstraße zu gefallen ist und daher schneller als die Fluchtgeschwindigkeit der Milchstraße unterwegs ist, was sie dann auch wieder in der Tiefe des Raums verschwinden lassen wird, aber dass dies für eine größere Zahl von Zwerggalaxien zur gleichen Zeit gerade heute der Fall sein soll, ist dann doch ziemlich unwahrscheinlich. Dies spricht für eine eher große Masse der Milchstraße.Die Autoren nutzten weiterhin das frei verfügbare Simulationstool galpy, um aus den Bewegungsdaten Orbits um und durch den Milchstraßenhalo abzuschätzen. Das Tool liefert die Entfernungen des Peri- und Apogalaktikums (also des nächsten und fernsten Abstands vom Milchstraßenzentrum), die Bahnexzentrizität (wie stark die Bahn von einer Kreisbahn abweicht) und die Orientierung der Bahn. Je nach angesetzter Masse für die Milchstraße ergibt sich für die Galaxie Carina I, dass sie bei einer leichten Milchstraße dieser nicht näher als 50 kpc gekommen sein kann, bei einer schweren Galaxis hingegen bis auf 20 kpc, was schon beinahe die Scheibe streift. Tatsächlich zeigt Carina I klare Spuren der Einwirkung von Gezeitenkräften, was für eine große Annäherung und damit eine massereiche Milchstraße spricht. Allerdings schließen die Autoren nicht aus, dass die Galaxie anstelle der Milchstraße den Magellanschen Wolken nahe gekommen sein könnte. Sie wollen dies in einer zukünftigen Arbeit untersuchen.
Bei der Analyse der Perigalaktika-Entfernungen fiel den Autoren auf, dass sich mehr Galaxien in der Nähe ihrer Perigalaktika aufhalten, als in der Nähe der Apogalaktika, obwohl sich ein Objekt in der Apoapsis1 langsamer bewegt und folglich längere Zeit fern vom umkreisten Objekt verweilt. Daraus schließen sie, dass zahlreiche Zwerggalaxien noch gar nicht entdeckt worden sind, welche die Population der Satellitengalaxien in der Nähe ihres Apogalaktikums auf das normale Maß erhöhen würden. Dies ist ein Beitrag zur Lösung des “Missing Satellite” Problems, welches besagt, dass in Simulationen der Entstehung der Galaxien viel mehr Zwerggalaxien entstehen, als in der Realität gefunden werden – ein Kritikpunkt am ΛCDM-Modell der Dunklen Materie.
Und der Sieger ist…
Somit belegen die Gaia-Ergebnisse eine eher massive Galaxis. Die Abschätzung von Fritz et al. ist nur sehr grob, es werden überhaupt nur 2 Massen der Milchstraße in Erwägung gezogen, aber die Arbeit verwendet Satellitengalaxien, die sich teilweise außerhalb des Halos der Milchstraße bewegen und keine Extrapolationen von Messungen aus geringeren Radien benötigen. Auf der anderen Seite belegt die Arbeit von Posti und Helmi auf der Basis einer sehr großen Zahl von Kugelsternhaufen, dass die Milchstraßenmasse in der Gegend von 1,3 Billionen Sonnenmassen liegen sollte, ein Ergebnis, das mit allen kürzlich erschienenen Arbeiten verträglich ist. Die Arbeit gibt sogar Einblick in die Form des Dunkle-Materie-Halos der Milchstraße. Der Sieger ist hier eindeutig – die Wissenschaft!
Referenzen
[1] Lorenzo Posti, Amina Helmi, “Mass and shape of the Milky Way’s dark matter halo with globular clusters from Gaia and Hubble“, submitted May 3 to Astronomy & Astrophysics Magazine, arXiv:1805.01408.
[2] T. K. Fritz, G. Battaglia, M. S. Pawlowski, N. Kallivayalil, R. van der Marel, T. S. Sohn, C. Brook, G. Besla, “Gaia DR2 Proper Motions of Dwarf Galaxies within 420 kpc: Orbits, Milky Way Mass, Tidal Influences, Planar Alignments, and Group Infall“, submitted May 2 to Astronomy & Astrophysics Magazine, arXiv:805.00908
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