Die Infinitesimalrechnung (Integration und Differentation) gehört zu den wichtigsten Werkzeugen der Naturwissenschaftler. Sehr viele Prozesse in der Natur lassen sich als Differentialgleichung darstellen; also als Gleichungen, in dem denen nicht nur der gesuchte Parameter selbst vorkommt sondern auch dessen Änderungsrate.

Um solche Differentialgleichungen lösen zu können, muss man sie integrieren. Das ist knifflig: jeder der schon ein bisschen auf diesem Gebiet gearbeitet hat weiß, dass die Integration im Gegensatz zum Differenzieren sehr schwer sein kann. Differenzieren geht immer. Da braucht man nur die bekannten Regeln anwenden und kann damit alles und jedes differenzieren – egal wie komplex der Ausdruck ist. Differenzieren kann auch jedes bessere Computer-Mathematikprogramm. Integrieren dagegen ist schwerer. Hier gibt es zwar auch ein paar Regeln – aber keine allgemeingültige Vorschrift wie bei der Differentation. Da braucht es dann sehr oft viel Kreativität bzw. Genialität um Lösungen für Differentialgleichungen zu finden. Und manchmal findet man überhaupt keine.

Auch in der Astronomie und speziell in der Himmelsmechanik ist das Lösen von Differentialgleichungen wichtig. Ich möchte hier jetzt eine ganz spezielle Methode vorstellen, bei der man Differentialgleichungen durch differenzieren lösen kann anstatt durch Integration!

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Lie-Operatoren und Lie-Reihen

Die Methode der Lie-Integration basiert auf den Arbeiten des norwegischen Mathematikers Sophus Lie (1842-1899). Lie hat auf vielen Gebieten der Mathematik gearbeitet und sich auch mit Differentialgleichungen beschäfigt.

Dabei hat er den sg. “Lie-Operator” eingeführt. Nicht erschrecken, jetzt wird es ein wenig mathematisch. Ist aber nicht schlimm – auch wenns fies aussieht, in Wirklichkeit ist es ganz einfach 😉

Der Lie-Operator D sieht folgendermaßen aus:

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Ein Operator ist  im Prinzip nichts anderes als eine mathematische Rechenvorschrift. Was der Lie-Operator macht, sieht man am besten, wenn man ihn auf eine Funktion anwendet:

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Wir haben also eine Funktion f (z.B. f(x)=sin(x)) und wenden den Operator D auf sie an. Dann sagt uns der Operator, dass wir die Funktion zuerst nach z1 ableiten müssen – das ist die Bedeutung der ∂-Symbole. Diese Ableitung wird dann mit θ1 multipliziert, wobei θ1 ebenfalls eine bestimmte Funktion ist. Danach passiert das selbe nochmal mit z2 und θ2 – und so weiter. Keine Angst, es wird bald klarer, was ich meine. Wichtig ist vorerst nur, dass der Lie-Operator eine Rechenvorschrift ist, die (u.a.) sagt: Differenziere die Funktion!

Mit diesem Operator kann man nun eine Lie-Reihe definieren:

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Falls jemand das große Σ-Symbol nicht kennen sollte: Das ist eine mathematisch kurze Art, Summen zu schreiben. An der Ober- und Unterseite des Σ-Symbols sieht man, wie summiert werden soll. In diesem Fall soll zuerst im Ausdruck hinter dem Σ der Wert für ν gleich 0 gesetzt werden. Danach wird v gleich 1 gesetzt, dann gleich 2, usw. bis zum letzten Wert, der in diesem Fall unendlich ist. Dann werden alle Ausdrücke addiert.

Im Fall der Lie-Reihe müssen wir für jeden Teil der Summe einen Bruch berechnen (tv / v!), wobei das “!” die Rechenoperation “Fakultät” anzeigt (x!=1*2*3*…*x). Danach wird der Lie-Operator auf die Funktion f(z) angewandt und das Ergebnis mit dem Bruch multipliziert. Das hochgestellte v beim Lie-Operator gibt hier an, wie oft der Operator hintereinander angewandt werden soll.

Für v=0 ist das recht einfach: t hoch 0 ist 1 und 0! ist ebenfalls 1. Der Bruch ergibt also 1/1 = 1. Danach müssen wir den Lie-Operator null mal auf die Funktion anwenden – also gar nicht. Es bleibt also einfach nur die Funktion selbst übrig: f(z).
Für v=1 ist t hoch 1 gleich t und 1! ist wieder 1. Der Bruch ergibt also t/1=t. Dazu kommt der Lie-Operator, einmal angewandt auf f(z): t*Df(z).
Für v=2 ist t hoch 2 gleich t² und 2! ist 1*2=2. Nun muss der Lie-Operator zweimal auf f(z) angewandt werden, wir müssen also zuerst D(f) bestimmen und dann nochmal D (D(f)). Oder, in kürzerer Schreibweise: D²f(z).

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Kommentare (33)

  1. #1 Florian Freistetter
    6. Mai 2009

    Und wehe ich krieg hier nicht mindestens genauso viele Kommentare wie bei der letzten Homöopathie-Diskussion 😉

    Naja – vielleicht kann mir zumindest Thilo sagen, ob ich bei der Mathematik irgendeinen groben Blödsinn gemacht habe (ich hab ja einiges bei der Ableitung ausgelassen…)

  2. #2 Thorsten S.
    6. Mai 2009

    Gleich mal diesen Artikel weiter empfohlen, somit erübrigt sich Deine Befürchtung, ob jemand überhaupt diesen Artikel ließt! 😉
    Gruß
    Thorsten

  3. #3 Thilo Kuessner
    6. Mai 2009

    Hervorragender Artikel, ein Kandidat für die ‘Auslese 2009’!

  4. #4 Christian Reinboth
    6. Mai 2009

    Uff … das dürfte eine Weile dauern, bis ich den Artikel gründlich (und in Ruhe) gelesen habe. Aber gelesen wird er – keine Sorge. Allein schon wegen der enormen Mühe mit den Formeln…

  5. #5 Georg Hoffmann
    6. Mai 2009

    Super

  6. #6 Georg Hoffmann
    6. Mai 2009

    Toll (ich habe super und toll getrennt, das zaehlt am Ende doppelt!)

  7. #7 MartinB
    6. Mai 2009

    Klasse Artikel!

  8. #8 Marcus Anhäuser
    6. Mai 2009

    gibs uns.
    ich geb´s gerne zu: Ich habe nicht ein Wort verstanden. Muss aber auch nicht.

  9. #9 hape
    6. Mai 2009

    sieht ziemlich interessant aus, auch wenn ich es doch eher was überflogen hab. Was mir nur aufgefallen ist, du erklärst an einer Stelle das Summenzeichen, nur bezweifle ich, dass man mit Differentialgleichungen etwas anfangen kann, wenn man das Summenzeichen nicht kennt ;).

    Wenn ich also mal in einer meiner Diplomprüfungen aus irgendeinem Grund eine einfache DGL lösen muss, nehm ich einfach die Lie-Integration, um ein wenig Zeit zu schinden, anstatt einfach (zumindest wie in Exphysik üblich) die Lösung hinzuschreiben, weil man sie ja eh kennt.

  10. #10 Ludmila Carone
    6. Mai 2009

    Hach schön. Jetzt muss ich nicht mehr meine Vorlesungsnotizen raussuchen, sondern kann immer hier reinschauen, wenn ich mal schnell was nachschlagen will. *Grübel* Wo sind eigentlich die Vorlesungsnotizen?

  11. #11 Jörg W.
    6. Mai 2009

    ich bin doch nicht lebenslang vor jeglicher Mathematik geflohen, um mir dann hier freiwillig so was anzutun! Frechheit! Ich könnte mich jetzt noch 400 Kommentare lang darüber aufregen, hierher geklickt zu haben 😉
    Mit Wohlwollen begonnen, mit Resignation beendet – trotzdem toll. Wo, wenn nicht in einem Blog darf auch Spezialinfo untergebracht werden?

  12. #12 sil
    6. Mai 2009

    Florian Freistetter· 06.05.09 · 13:38 Uhr:
    “Und wehe ich krieg hier nicht mindestens genauso viele Kommentare wie bei der letzten Homöopathie-Diskussion ;)”

    Ha Ha!

    😉

  13. #13 sil
    6. Mai 2009

    Weiß jemand, woher die Formulierung:
    “Ich versteh nur Bahnhof”
    stammt?

    Geht das vielleicht auf die schlechte Qualität der Lautsprecherdurchsagen auf Bahnhöfen zurück?

  14. #14 Birgit
    6. Mai 2009

    HA! wenn ich den Lösungsweg aus dem Cartoon gekannt hätte, hätt ich mir etliche Probleme bei Matheprüfungen erspart! 😉

  15. #15 Simon
    6. Mai 2009

    Genialer Artikel.

    Bei uns an der Uni wurde auch ein Seminar über ein ähnliches Thema angeboten.

    Leider bin ich nicht hineingekommen.

  16. #16 cimddwc
    6. Mai 2009

    Ich denke auch, dass die, die sich durch die ganzen ∂s nicht gleich abschrecken lassen, schon das Σ kennen (sollten)…

    Was die Kommentaranzahl betrifft: Warten wir doch, bis Frau Lopez hier hereinschneit, die leugnet bestimmt das eine oder andere Gleichheitszeichen – schon allein weil etwas, das “Lie” im Namen hat, doch eine Lüge sein *muss* 😉 –, dann muss nur jeder einmal nachfragen und schwups gibt’s je eine Wiederholung ohne weitere Aussage, drei Zitate und zwei Beschwerden wegen Beleidigung.

  17. #17 Eddy
    6. Mai 2009

    Ich schliesse mich an. Das verdient die Tapferkeitsmedaille ;-))

    Fragen wird es wohl keine geben?! Wie in der Schule, ALLE haben es gleich verstanden! ;-)))

    Kann man den Blog nicht irgendwie bewerten im Netz?

    Hochachtungsvoll
    Eddy

  18. #18 rolak
    6. Mai 2009

    falls überhaupt jemand bis hier mitgelesen hat;)

    bin ich denn heute nur von Pessimisten umgeben? Zwei Anmerkungen:
    1) guter, schöner Text
    2) ich sehe die 400+ Kommentare trotz JörgWs Androhung nicht anrollen..

  19. #19 Arno
    6. Mai 2009

    In welchem Sinne sind Lie-Reihen denn konvergent? Und gibt es Garantien, wie schnell sie konvergieren?

  20. #20 Sim
    6. Mai 2009

    Wieso müssen alle gleich so tun als ob es um schwarze Magie geht nur weil es mal etwas mathematisch wird?

    Ich finds cool geschrieben, auch wenn ich noch nicht so der Fan von Differentialgleichungen bin. Ist natürlich nicht alles mathematisch sauber (Eine Potenzreihen ist natürlich nicht die Summe unendlich vieler Glieder mit einem letzten Wert unendlich , sondern der Grenzwert der Partialsummen, wenn er existiert 😉 ). Aber im großen und ganzen doch eine brauchbare Info. Wenn ich also im Laufe meines Studiums zum ersten mal auf die Lie-Reihen treffe werd ich daran denken.

    Danke Florian für diesen einen von vielen Mosaiksteinen des Wissens, welche in ihrer Vielfallt zu Erkentnis und echtem Verständnis führt!

  21. #21 Florian Freistetter
    6. Mai 2009

    Hui! Da tut sich ja doch einiges 😉 Schön… 🙂

    @hape: Ja, du hast recht, dass das mit dem Summenzeichen vermutlich überflüssig war. Am Anfang wollte ich den Artikel wohl noch so schreiben, das ihn wirklich jeder verstehen kann. Aber im Zuge des Schreibens hat sich dann gezeigt, dass das dann doch ein bisschen ausarten würde und dann wahrscheinlich zu nem Buch anstatt nem Blog-Artikel wird 😉 Und der Artikel ist sowieso schon lang – da hab ich dann am Schluß auf weitere Detail-Erklärungen verzichtet.

    @Arno: Zu den Details der Konvergenz müsste ich nochmal im Buch von Gröbner nachsehen – ich schau mal, ob ich das noch irgendwo finde.

    @Sim: Ja, klar – als “echte” Mathematik geht das nicht durch 😉 Ich hab auch einiges von den verschiedenen Bedingungen und Vorraussetzungen unterschlagen (die theta_i müssen z.B. holonom sein) und auch beim Vertausschungssatz war ich mehr als knapp. Aber ansonsten wäre das ganze so extrem mathematisch geworden, dass wirklich kaum jemand mehr durchgestiegen wäre…

    @Jörg W: Wo hat denn die Resignation eingesetzt? Mathematisch gesehen ist da wirklich nichts schwieriges dabei, eigentlich. Sollte mit Schulmathematik zu packen sein – vielleicht ists aber stellenweise etwas kompliziert formuliert.

  22. #22 marco
    6. Mai 2009

    Hey danke,
    wieder ein Trick mehr

  23. #23 Ronny
    7. Mai 2009

    Mein Kommentar: Endlich mal eine Formel 🙂

    Bezieht sich auch auf diverse Bücher die nur um das Publikum nicht zu verschrecken auf Formeln verzichten und dann sprachliche Verrenkungen machen müssen anstatt eine einfache Formel hinzuschreiben 🙂

    @Florian
    Schulmathematik dritte Klasse Oberstufe (HTL, Gymnasium). Ich muss es wissen, hab meinen Junior letzhin beim Integrieren erwischt.

  24. #24 luckydudey
    9. Mai 2009

    Höhere Mathematik 1. Semester *gähn*… Da besuch ich lieber eine HöMa Vorlesung und muss mich nicht Ellenlange Texte lesen. Trotzdem ein netter Versuch den Laien Mathe näherzubringen.

  25. #25 Jörg W.
    10. Mai 2009

    @Florian
    ich glaube nicht, dass du es sehr kompliziert geschrieben hast und eventuell ist es mit Schulmathemathik zu verstehen- nur hat mir schon die Schulmathematik Probleme bereitet (ab dem Bruchrechnen 😉 – ich hab da eine Insel-Unbegabung, bin also sicher kein Maßstab.

  26. #26 Florian Freistetter
    10. Mai 2009

    @luckydudey: “Höhere Mathematik 1. Semester *gähn*… Da besuch ich lieber eine HöMa Vorlesung und muss mich nicht Ellenlange Texte lesen.”

    Ach, kann man heute schon Mathe studieren, ohne lesen zu müssen?

  27. #27 Wolfgang Graßmann
    14. Mai 2009

    Sehr schön, erinnert mich ein bißchen an das Heisenbergbild, da war auch so eine zeitentwicklung

    PSI(t) = exp(iHt)Psi(0) für die Wellenfunktion zur Zeit t.
    das gab dann einen Operator

    Hheisenberg = exp(-iHt)*hschrödinger*exp(iHt)

    H= Hamilton-Operator
    Scheint ein Spezialfall zu sein.

  28. #28 Constantin
    20. Mai 2009

    Sehr interessanter Beitrag. Kannst du vielleicht einen Link zum Vertauschungssatz von Gröbner online stellen? Ich find nämlich nichts darüber im Bronstein, und ich dachte der wäre das Nachschlagewerk der Mathematik.
    Und mich hat das auch ein bischen an die Zeitentwicklung in der QM erinnert.

  29. #29 Florian Freistetter
    20. Mai 2009

    @Constantin: Ich glaube, der Vertausschungssatz ist online nicht zu finden. Der steht in Gröbners Buch. Wenn du mir ein Mail schickst, dann kann ich dir ein pdf schicken.

  30. #30 effjot
    28. Mai 2009

    Hey, wieder was gelernt. Danke!

    Mit den Formeln in dem Artikel sieht ja nach Arbeit aus. Schade daß MathML immer noch nicht anwendbar ist. 🙁

  31. #31 regow
    18. Oktober 2010

    Ich bin begeistert. Ich bin auch schon einmal über die Lie-Ableitung gestolpert und wußte dann schlicht nicht weiter – was im Netz zu finden war hab ich nicht verstanden.
    Die erste Zeile schaut ja aus wie ein Mittelding aus Divergenz und Gradient von f mal innerem Vektorprodukt mit theta; und dann die verLiete Taylorreihe.
    ad sim, wenn ich alles richtig verstanden habe, dann ist alles was man als exp(irgendwas) darstellen kann, sowieso konvergent.
    Danke, noch einmal für die super Info. Ich bin ja erst kürzlich über scienceblogs.de gestoppert und grase jetzt Deine blogs ab um meine Wissenslücken zu füllen.

  32. #32 regow
    19. Oktober 2010

    Stimmt natürlich nicht, was ich gesagt habe; die erste Zeile ist ganz einfach nur der Gradient von f mal dem innernen Vektorprodukt mit theta.

  33. #33 vidar
    München
    6. September 2015

    Hallo Florian,
    bin eben mit ein paar Jahren Verspätung auf diesen deinen Artikel gestoßen…
    Ich habe selbst einiges mit numerischer Physik zu tun gehabt und und lese hin und wieder etwas zum Thema, Lierheien waren mir bisher aber nicht untergekommen.
    Von daher fand ich den Artikel sehr spannend – und habe jetzt ein bisschen Literatur zum lesen beim Pendeln 😉
    Vielen Dank fürs (aus meiner Sicht sehr gelungene) Erklären und den Mut, auch mal ein paar Formeln zu bringen!