Ich habe in letzter Zeit einige Bücher über String-Theorie gelesen (z.B. von Lisa Randall und Brian Greene). String-Theorie ist eine faszinierende Sache: es gibt darin keine Elementarteilchen, sondern nur einen einzelnen, elementaren “String”; ein eindimensionales Objekt. Je nachdem, wie dieser Stringt schwingt, erscheint er uns als die verschiedenen Teilchen, die das Standardmodell der Teilchenphysik kennt (Photon, Elektron, Neutrino, etc). Damit diese Theorie funktioniert, müsste unser Universum allerdings mehr als nur die drei bekannten Raumdimensionen haben: wir bräuchten insgesamt 11!
Die Stringtheorie ist verführerisch: sie könnte die allgemeine Relativitätstheorie mit der Quantentheorie vereinen und so die Probleme lösen, an denen schon Albert Einstein selbst (erfolglos) gearbeitet hat. Sie könnte uns erklären, wie unser Universum wirklich entstanden ist und das Paradox der Urknallsingularität auflösen. Und noch viel mehr – sie könnte die erste wirkliche “Theorie von allem” sein.
Allerdings ist in der Stringtheorie nicht alles eitel Sonnenschein. Die ganze Disziplin steht vor gravierenden Problemen. Und es ist zweifelhaft, ob sie in absehbarer Zeit gelöst werden können. Mehr noch, die Konzentrierung der Physiker auf die Stringtheorie könnte die Versuche, die großen Probleme der Physik zu lösen, regelrecht sabotieren.
Das meint zumindest der Physiker Lee Smolin in seinem Buch “The Trouble with Physics: The Rise of String Theory, the Fall of a Science, and What Comes Next”
Die fünf großen Probleme der Physik
Smolin hat Ahnung vom Thema. Er hat jahrelang in der Stringtheorie gearbeitet und wichtige Arbeiten verfasst. Er hat sich aber auch immer schon mit der Physik abseits der Stringtheorie beschäftigt.
Gleich im ersten Kapitel des Buches definiert er die “fünf großen Probleme der theoretischen Physik”:
- Die Quantengravitation: Wie kann man allgemeine Relativitätstheorie und Quantentheorie in einer einzigen Theorie vereinen?
- Das grundlegende Problem der Quantentheorie: Wie lässt sich die grundlegenden Probleme der Quantentheorie (die Rolle des Beobachters, Unschärferelatione, …) lösen: durch eine Neuinterpretation oder eine völlig neue Theorie?
- Das Problem der Vereinheitlichung: Können die Kräfte und Teilchen des Standardmodells in einer einzigen Theorie vereinheitlicht werden?
- Das Problem der Konstanten: Wie können die vielen freien Variablen des Standardmodells erklärt werden? Wie wählt die Natur Werte für diese Variablen?
- Das Problem der dunklen Materie und der dunklen Energie: Wie erklärt man dunkle Energie/Materie? Oder, wenn beide nicht existieren, wie erklärt man die Beobachtungsbefunde auf eine andere Art und Weise?
Diese 5 Probleme gilt es zu lösen. Aber ist die Stringtheorie wirklich der Weg dazu?
Smolin beginnt nun, das Prinzip der Vereinheitlichung zu erklären: die Keplerschen Gesetze, Maxwells Theorie des Elektromagnetismus, Relativitätstheorie, etc. Der nächste große Teil des Buches ist der Erklärung der Stringtheorie gewidmet. Die grundlegenden Eigenschaften der Theorie und der Strings werden vorgestellt und Smolin erklärt auch schön, wie sich die Theorie von einer Außenseiteridee zu dem dominanten Forschungsgebiet der theoretischen Physiker entwickelt hat.
Die Probleme der Stringtheorie
Im Gegensatz zu anderen Büchern zu diesem Thema widmet Smolin allerdings auch den Problemen der Theorie viel Zeit. Das erste Problem der Stringtheorie ist, dass sie genaugenommen keine “Theorie” im eigentlichen Sinne ist. Aus mathematischer Sicht ist die Behandlung der Eigenschaften der Strings extrem kompliziert. Bis auf wenige Ausnahmen (die erwiesenermaßen unser Universum nicht beschreiben können) ist es nicht möglich, die entsprechenden Gleichungen explizit aufzuschreiben. Man verwendet daher oft ein Approximationsverfahren (Störungsrechnung), bei dem man statt einer einzelnen Gleichung eine unendliche Reihe von Termen erhält. Je mehr Terme man inkludiert, desto besser ist die Annäherung an die Wirklichkeit. In der Himmelsmechanik ist Störungsrechnung beispielsweise ein Standardverfahren und funktioniert hervorragend. Um damit aber sicher arbeiten zu können, müsste man eigentlich erstmal nachweisen, dass dieses Verfahren endlich ist. D.h. man muss zeigen können, dass die Terme in der Reihe nicht unendlich groß werden können und dass auch die unendliche Summe aller Terme immer noch einen endlichen Wert hat.
Bei der Stringtheorie konnte das nicht nachgewiesen werden. Es gab zwar Ansätze für einen Beweis – der aber nicht völlständig war. Smolin war überrascht, als er diese Tatsache herausfand; er war immer davon überzeugt, dass die Endlichkeit der Stringtheorie schon längst bewiesen war. Auch viele Stringtheoretiker selbst wissen nicht, dass der Beweis nicht existiert bzw. ignorieren diese Tatsache bzw. meinen, dass der Beweis schon irgendwann noch geführt werden wird.
Viel schwerwiegender ist aber das Problem der Uneindeutigkeit. Es gibt nicht nur eine Stringtheorie – es gibt nahezu unendlich viele verschiedene Versionen (das liegt daran, dass man für die Form der zusätzlichen Dimensionen im Prinzip eine beliebige Wahl treffen kann). Der “oberste Stringtheoretiker”, Edward Witten, konnte zwar zeigen, dass sich die hauptsächlichen Stringtheorien in einer einzigen, übergeordneten Theorie vereinen lassen. Über diese “M-Theorie” ist allerdings heute noch weniger bekannt, als über die Stringtheorie.
Und es bleibt immer noch das Problem der “String Theory Landscapes“. Ursprünglich dachte man, die Stringtheorie wäre die fundamentale Theorie des Universums. Heute weiß man, dass das falsch ist. Es gibt eine enorme Anzahl an Zuständen in der Stringtheorie, die alle zuverschiedenen Ergebnissen führen. Die Zahl, die hier oft genannt wird, ist 10500 ! Natürlich wird man darunter auch Theorien finden, die unser Universum beschreiben – aber wie erklärt man, warum genau diese Version in der Natur realisiert ist und alle anderen nicht?
Und schließlich bleibt das Problem, dass die Stringtheorie zwar nun schon seit bald 30 Jahren intensiv betrieben wird – aber immer noch keine konkreten Ergebnisse vorzuweisen hat. Es gibt immer noch keine Vorhersagen, die durch Beobachtungen überprüft werden können. Es gibt keine Experimente, die durchgeführt werden können, um die Theorie zu verifizieren oder zu falsifizieren. Die Stringtheorie ist der Lösung der fünf großen Probleme kaum näher gekommen. Sie würde zwar das Problem der Vereinheitlichung lösen – aber bei den restlichen Punkten gab es wenig Fortschritte.
Abseits der Stringtheorie
Smolin stellt ausdrücklich klar, dass er dieses Buch nicht geschrieben hat, um die Stringtheorie anzugreifen:
“I can only insist that I am writing this book not to attack string theory…”
Aber er kritisiert die Art und Weise, wie theoretische Physik betrieben wird. Wer kein Stringtheoretiker ist, hat Schwierigkeiten, überhaupt irgendwo eine Anstellung zu bekommen; bis auf wenige Ausnahmen werden alle entsprechenden Arbeitsgruppen von Stringtheoretikern geleitet. Trotz der gravierenden Probleme, die mit der Stringtheorie existieren, beschäftigt sich die Community mit unverminderter Intensität und Enthusiamus mit den Strings und alternative Theorien und Ansätze bleiben auf der Strecke.
Viele dieser Theorien stellt Smolin in seinem Buch vor (Schleifenquantengravitation, Twistor-Theorie, nicht kommutative Geometrie, deformierte spezielle Relativitätstheorie, modifizierte Newonsche Dynamik, …). Es gäbe also genügend alternative Ansätze zur Stringtheorie, die durchaus ebenso vielversprechend sein können. Und im Gegensatz zur Stringtheorie entziehen sich die anderen Ansätze nicht im gleichen Ausmaß der experimentellen Überprüfung. Trotzdem werden sie nur von wenigen “Einzelgängern” betrieben und erhalten vom Rest der Community viel weniger Aufmerksamkeit als die Stringtheorie.
Im letzten Teil des Buches widmet Smolin sich daher wissenschaftsphilosophischen und -theoretischen Überlegungen und probiert zu analysieren, wie es zu dieser Situation kommen konnte und wie sie sich vielleicht lösen lässt.
Smolins Beschreibung der stringtheoretischen Community ist wenig schmeichelhaft. Man hetzt zu sehr unterschiedlichen Moden nach: je nach der aktuellen Mode wird an bestimmten Themen geforscht und das von der Mehrheit der Stringtheoretiker. Ist die Mode vorbei, wird der Forschungsgegenstand aufgegeben – egal ob das Problem gelöst werden konnte oder nicht – und man widmet sich dem nächsten “Modeproblem”. Authoritäten – wie z.B. Edward Witten – werden zu hoch gehalten; kaum ein Stringtheoretiker würde es sich erlauben, eine andere Meinung zu haben als Witten. Smolin listet folgende sieben Eigenschaften auf, die die stringtheoretische Community vom Rest der wissenschaftlichen Welt unterscheidet:
- extremes Selbstbewußtsein bis hin zu Elitismus
- eine “monolithische” Gemeinschaft in der ein hohes Maß an Einigkeit herrscht, auch wenn die wissenschaftliche Situation das eigentlich nicht rechtfertigen würde
- in einigen Fällen eine Identifikation mit der Gemeinschaft, die an politische bzw. religiöse Gruppen erinnert
- ein starkes Gefühl für die Trennung zwischen der Community und “den anderen”
- eine Geringschätzung und Desinteresse der Arbeit von Wissenschaftlern, die nicht der Gruppe angehören
- eine Tendenz, Indizien zu optimistisch zu beurteilen und die Möglichkeit zu ignorieren, dass die Theorie falsch sein könnte
- ein mangelndes Verständnis für die Risiken, die ein Forschungsvorhaben beinhalten sollte
Smolin stellt nochmal klar, dass er nicht individuelle Stringtheoretiker kritisiert, sondern ihr Verhalten als Gruppe. Hier bringt er den Begriff des “Groupthink” ins Spiel. Dieser Begriff aus der Psychologie wird bei Wikipedia beispielsweise folgendermaßen definiert (diese Definition deckt sich auch mit der in Smolins Buch):
“Gruppendenken bezeichnet einen Prozess, bei dem eine Gruppe von
eigentlich kompetenten Personen schlechte oder realitätsferne
Entscheidungen trifft, weil jede Person ihre eigene Meinung an die
vermutete Gruppenmeinung anpasst. Daraus können Situationen entstehen,
bei der die Gruppe Handlungen oder Kompromissen zustimmt, die jedes
einzelne Gruppenmitglied unter normalen Umständen ablehnen würde.”
In diesem Verhalten sind Smolin eine ernste Gefahr für die Weiterentwicklung der theoretischen Physik. Solange weiterhin nur an einer einzigen Theorie geforscht wird und alternative Ansätze ignoriert werden, besteht die Gefahr, das wichtige Erkenntnisse gar nicht oder viel später als nötig gefunden werden. Ganz besonders gilt das für die Stringtheorie, die ja durchaus nicht unumstritten ist und außerdem nicht experimentell überprüfbar ist.
Seher und Handwerker
Smolin führt diese Entwicklung auf die zwei unterschiedlichen Wissenschaftlertypen zurück, die er definiert: “Seher” und “Handwerker”. “Seher” sind z.B. Forscher wie Albert Einstein, die fähig waren, große, neue Fragen zu stellen und mutig genug, sie auf unkonventionelle Art und Weise zu beantworten (Smolin stellt übrigens klar, dass er hier nur über Leute spricht, die Teil des “normalen” Wissenschaftsbetriebs sind und nicht von “Cranks” o.ä.). “Handwerker” sind Wissenschaftler, die die Grundlagen ihres Fachgebiet gut beherrschen und durch Anwendung der bekannten Gesetze neue Erkenntnisse gewinnen. Damit Wissenschaft erfolgreich ist, braucht es beides: in “revolutionären” Perioden, wie z.B. Anfang des letzten Jahrhunderts, braucht es “Seher” um die anstehenden Probleme zu lösen. Sind die neuen Theorien erstmal etabliert, braucht man “Handwerker”, die die neuen Theorien weiterentwickeln und anwenden.
Smolin meint nun, dass man es verpasst hat, den Wissenschaftsbetrieb rechtzeitig von “Handwerkern” auf “Seher” umzustellen. Spätestens in den Achtzigern Jahren wäre eigentlich eine neue Revolution nötig gewesen, um die Lösung der ungelösten Probleme voranzutreiben. Trotzdem hat man mit der “handwerklichen” Methode weitergemacht. Die ist aber, wie man bei der Stringtheorie sieht, nicht geeignet, um wirkliche Fortschritte zu machen. Man bräuchte also wieder mehr “Seher”. Mittlerweile ist der Forschungsbetrieb, mit Peer-Review, Förderanträgen, befristeten Verträgen, etc aber völlig auf die “Handwerker” ausgerichtet; ein “Seher” hätte es enorm schwierig, hier Fuß zu fassen. Will man die großen Probleme der Physik lösen, dann müssen die Rahmenbedingungen entsprechend geändert werden.
Fazit
“The Trouble with Physics” ist ein äußerst interessantes Buch! Und durchaus empfehlenswert. Smolin erklärt zwar nicht ganz so gut wie z.B. Brian Greene – aber er schreibt trotzdem sehr klar und verständlich. Sein etwas anderer Blick auf die Stringtheorie ist lesenswert und seine Beschreibung der Wissenschaft abseits der Stringtheorie ist spannend. Genauso wie seine wissenschaftsphilosophischen Abhandlungen und persönlichen Ankedoten (z.B. über sein Zusammentreffen mit dem Philosophen Paul Feyerabend). Das Buch ist zwar schon 2 Jahre alt – aber in seinen hauptsächlichen Punkten immer noch aktuelle. Und erst vor ein paar Monaten ist die deutsche Version erschienen. Eine klare Leseempfehlung!
P.S. Backreaction hat das Buch schon vor ein paar Jahren besprochen und auch Lee Smolin dazu interviewt.
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