Mehr noch, solche Reklamen verkaufen eine zweifelhafte Weltsicht, nämlich die Vorstellung, dass es in der Wissenschaft nicht um das empfindliche Verhältnis zwischen Theorie und Beweis geht. Sie suggeriert stattdessen mit der ganzen Macht ihrer internationalen Werbebudgets, ihren mikrozellularen Komplexen, ihrem Neutrillium XY, ihrem enseur Peptidique Végétal und wie das Zeug sonst heißen mag, dass die Wissenschaft nichts ist als undurchschaubarer Unsinn, bestehend aus Gleichungen, Molekülen, pseudowissenschaftlichen Diagrammen, schmissigen, schlauen Aussagen von Autoritätspersonen in weißen Kitteln und dass dieser wissenschaftllich klingende Quatsch ebenso gut aus der Luft gegriffen, zusammengebraut, konfabuliert sein könnte, einfach nur, um Geld zu machen. Sie verkaufen mit vollem Einsatz die Vorstellung, dass Wissenschaft unverständlich ist und sie verkaufen diese Vorstellung hauptsächlich an attraktive junge Frauen, eine Gruppe, die zahlenmäßig in der Naturwissenschaft leider unterrepräsentiert ist.
Das Kapitel über Homöopathie gestaltet als Goldacres als Lehrstunde in evidenzbasierter Medizin und erklärt ganz genau wie eine vernünftige und seriöse medizinische Studie aufgebaut ist. Er erklärt außerdem, wie man mit so einer Studie Homöopathie überprüfen kann (und das die Behauptungen der Homöopathen, man könne die Wirkung der Globulis so nicht überprüfen, Unsinn ist). Auch Sinn und Zweck von Meta-Analysen werden erklärt. Goldacre zeigt auch, dass alle bisherigen Studien dieser Art der Homöopathie ein negatives Ergebnis bescheinigen und er erläutert, warum manche Studien doch zu einem positiven Schluß kommen (das sind diejenigen mit methodischen Fehlern).
Goldacre kann wunderbar erklären. Auch für längst bekannte Argumente findet er neue (zumindest neu für mich) und eingängige Formulierungen. So schreibt er zum Beispiel über die homöopathische Verdünnung:
Um die Sache aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, das Universum enthält ungefähr 3 x 1080 Kubikmeter Stauraum (…): Wäre es mit Wasser gefüllt und einem einzigen Molekül eines wirksamen Bestandteils, erhielte man gerade eine recht dürftige 55C-Verdünnung
Sehr schön ist auch die Frage nach dem Grund, warum sich das Wasser gerade die “Informationen” des Wirkstoffs merkt, nicht aber die der Verunreinigungen bzw. die Vorgeschichte:
Woher weiß ein Wassermolekül, dass es alle anderen Moleküle vergessen soll, die es zuvor gesehen hat? Woher weiß es, wann es meinen Bluterguss mit seiner Erinnerung an Arnika und nicht etwa mit der Erinnerung an Isaac Asimovs Fäkalien heilen soll?
(Das Zitat geht übrigens weiter mit “Ich habe das einmal in der Zeitung geschrieben und ein Homöopath beschwerte sich prompt bei der Presseaufsicht”.)
Ich könnte jetzt noch seitenweise aus dem Buch zitieren – es ist wirklich hervorragend! Das Kapitel über den Placeboeffekt sollte jeder “Alternativ”mediziner gelesen haben (und auch jeder echte Arzt!) und die Journalisten sollten sich die Kapitel über die Medien zu Herzen nehmen.
Aber auch wer schon meint, alles über Alternativmedizin und ihre skeptische Betrachtung zu wissen, sollte das Buch lesen. Goldacre findet immer einen neuen, interessanten Blickwinkel, aus dem man das Problem bisher noch nicht betrachtet hat.
Ich kann “Die Wissenschaftslüge” nur uneingeschränkt empfehlen! (auch wenn ich den deutschen Titel eher etwas unglücklich gewählt finde). Eigentlich sollte es Pflichlektüre für jeden Studenten sein – ich habe den Sinn und Wert des kritischen Denkens selten so gut erklärt bekommen!
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