Das hier ist die Rezension eines
Kapitels von “Der Stoff aus dem der Kosmos
ist” von Brian Greene. Links zu den Rezensionen der anderen Kapitel kann man hier finden.
Im letzten Kapitel hat Greene recht überzeugend dargelegt, dass unsere Vorstellung von der “fließenden” bzw. “vergehenden” Zeit falsch ist. Die Zeit fließt nicht. Das ist schon schwer zu akzeptieren – aber es wird noch schlimmer 😉 Denn es bleibt eine weitere Frage: woher kommt der “Zeitpfeil”? Warum passieren die Dinge immer nur auf eine bestimmte Weise, aber nie auf eine andere? Warum sieht man immer nur zerbrechende Eier, aber nie welche, die “entbrechen”? Warum erinnern wir uns nur an die Vergangenheit aber nie an die Zukunft?
Kurze Anmerkung: Der Inhalt dieses Kapitels ist ziemlich verwirrend und komplex. Außerdem ist es fast 40 Seiten lang. Wer also nach der Lektüre meiner Zusammenfassung nicht alles verstanden hat muss sich keine Sorgen machen 😉 Lest einfach in Ruhe das Buch und die ausführliche Erklärung von Greene.
Vorwärts oder rückwärts?
Diese Fragen sind schon rätselhaft genug – und noch rätselhafter werden sie, wenn man sich klarmacht, dass es keinen Grund zu geben scheint, warum das so sein sollte. Unsere physikalischen Gesetze sind vollkommen symmetrisch was Vergangenheit und Zukunft angeht. Sie machen da keinen Unterschied. Ich kann einen Ball von der Venus zum Jupiter werfen (ok, nicht wirklich, aber es geht ums Prinzip) und das ganze auf Video aufnehmen. Und egal ob ich den Film vorwärts oder rückwärts ablaufen lasse, es würde keinen Unterschied machen. Einmal sehe ich den Ball von der Venus abfliegen und auf dem Jupiter landen; einmal fliegt er beim Jupiter weg und landet auf der Venus. Beides sind physikalisch vollkommen gültige Vorgänge und man kann auch leicht zeigen, dass der rückwärtslaufende Film genau das zeigt, was man sehen würde, würde man einen Ball mit der passenden Geschwindigkeit vom Jupiter aus Richtung Venus werfen.
Ein bisschen anders ist es beim herabfallenden Ei. Wenn das Ei vom Küchentisch rollt und am Boden zerbricht, dann würde man beim betrachten eines entsprechenden Films sofort sehen, ob er rückwärts läuft oder nicht. Ein Haufen Eiermatsch und Schalenstücke die spontan auf den Tisch hüpfen und sich zu einem Ei zusammenfügen sieht man in der Realität relativ selten. Und trotzdem: die physikalischen Gesetze würden es nicht verbieten. Wüssten wir, wie wir die Luftmoleküle und die Moleküle des Küchenbodens genau anstupsen müssten, damit sie die Eierteilchen genau mit der richtigen Geschwindigkeit zurückfliegen lassen, dann würde das Ei sich selbst zusammensetzen und unversehrt auf dem Tisch landen. Das es praktisch undurchführbar ist, heisst nicht, dass es theoretisch nicht möglich wäre. Die physikalischen Gesetze verbieten es nicht. Warum aber sehen wir so etwas nie?
Extra für diesen Artikel hab ich meinen Boden eingesaut 😉
Diese Frage führt Greene direkt zur Entropie. Ganz simpel gesagt, ist sie ein Maß für die Unordnung in einem System. Greene beschreibt das mit folgendem Beispiel: Angenommen wir hätten den Text von “Krieg und Frieden” komplett ausgedruckt, auf 1386 Seiten und die ordentlich, in der richtigen Reihenfolge aufeinandergestapelt. Jetzt nehmen wir diesen Stapel und werfen ihn in die Luft. Was passiert? Es könnten zufällig alle Seiten genau richtig geordnet wieder zu Boden fallen. Es ist unwahrscheinlich, aber möglich. Viel wahrscheinlicher ist es, dass die Seiten einfach irgendwie zu Boden fallen. Für unseren Stapel gibt es genaue eine Möglichkeit, richtig geordnet zu sein – und unwahrscheinlich viele, ungeordnet zu sein. Etwa 101878 um genau zu sein. Es ist außerdem ziemlich egal, auf welche Art und Weise die Blätter ungeordnet sind. Wenn ich den ungeordneten Stapel nochmal neu durcheinanderbringe werde ich keinen großen Unterschied feststellen können. Unordnung ist Unordnung. In diesem Fall spricht man von einem Zustand mit hoher Entropie. Bei einem Zustand mit niedriger Etropie (den geordneten Seiten) bleibt eine Umordnung kaum unbemerkt – beim hochentropischen Zustand ist das egal.
Die Entropie hat Ludwig Boltzmann in die Physik eingeführt und heute gehört der zweite Hauptsatz der Thermodynamik zu den wichtigsten Grundpfeilern der Physik: physikalische Systeme entwickeln sich in der Regel immer von Zuständen niedriger Entropie zu Zuständen höherer Energie. Das das so ist, ist leicht einzusehen – denn ein System hat immer mehr Möglichkeiten, einen Zustand hoher Entropie einzunehmen als einen niedriger Entropie.
Aber ist das nicht genau das, was wir suchen? Ein physikalisches Prinzip, dass erklärt warum die Dinge so passieren und nicht anders? Es gibt viele verschiedene Arten, wie ein Ei zerbrechen kann – aber nur eine einzige, wie es wieder “entbrechen” könnte. Ein intaktes Ei ist in einem Zustand niedriger Entropie – und der Übergang zu einem Zustand hoher Entropie (zerbrochenes Ei) ist laut dem zweiten Hauptsatz sehr viel wahrscheinlicher als der umgekehrte Weg.
Die Entropie macht alles nur noch schlimmer…
Klingt gut. Aber leider ist das noch nicht die ganze Geschichte. Die wird jetzt erst so richtig verwirrend. Denn der zweite Hauptsatz ist ja eigentlich nur eine Folge der Newtonschen Bewegungsgesetze. Greene sagt dazu:
“Da Newtons Gesetze keine intrinsische zeitliche Orientierung aufweisen, lassen sich alle Argumente, mit denen wir beweisen wollen, dass Systeme sich in Zukunft von niedriger zu höherer Entropie entwickeln, ebenso gut auf die Vergangenheit anwenden.”
Das ist ein wichtiger Punkt der oft übersehen wird. Die physikalischen Gesetze geben uns keine Möglichkeit, zwischen Zukunft und Vergangenheit zu unterscheiden. Wenn wir von einem System also zu einem bestimmten Augenblick feststellen, dass es sich in einem Zustand niedriger Entropie befindet, dann müssen wir nicht nur folgern, dass es sich in Zukunft zu einem Zustand höherer Entropie entwickelt – sondern wir müssen auch schließen, dass es sich in der Vergangenheit in einem Zustand höherer Entropie befand!
Greene erklärt das mit dem Beispiel eines Eiswürfels. Angenommen wir sitzen in einer Bar und schauen den Eiswürfeln in unserem Drink beim Schmelzen zu (keine Witze jetzt über Physiker und langweilige Parties, ok? 😉 ). Um zehn Uhr Abends hat uns der Barkeeper ein paar schöne, frische Eiswürfel ins Glas geworfen. Und jetzt, eine halbe Stunde später, sind sie schon ziemlich dahingeschmolzen. Wenn wir dem zweiten Hauptsatz folgen, dann können wir davon ausgehen, dass sie in der nächsten halben Stunde noch weiter schmelzen und einen Zustand noch höherer Entropie einnehmen. Aber, wie wir oben gerade überlegt haben, macht die Physik keinen Unterschied zwischen Zukunft und Vergangenheit. Wir müssen also auch davon ausgehen, dass die Eiswürfel vor einer halben Stunde einen Zustand höherer Entropie eingenommen haben. Es müssten sich also aus dem Wasser in unserem Drink spontan halbgeschmolzene Eiswürfel gebildet haben, die nun wieder zerfallen. Das ist ziemlich absurd – denn außerdem müssten sich auch noch die Neuronen unseres Hirns parallel dazu so angeordnet haben, dass wir den Eindruck haben, es wären da frische Eiswürfel gewesen, die dann halb geschmolzen sind, denn das ist es ja, an das wir uns erinnern!
Eiswürfel entstehen nicht aus dem Nichts – oder? (Bild: Darren Hester, CC-BY-SA 2.5)
Absurde Geschichte! Es gibt jetzt erstmal zwei Möglichkeiten, sie aufzulösen. In der ersten Variante stimmt das, was wir beobachtet haben: da waren frische Eiswürfel in der Vergangenheit, sind sind jetzt halb geschmolzen und werden in Zukunft weiter geschmolzen sein. Dann müssen wir aber von einem Zustand sehr niedriger Entropie in der Vergangenheit ausgehen und das ist, wenn man sich die Überlegungen zur Zeitsymmetrie der physikalischen Gesetze ins Gedächtnis ruft, unwahrscheinlich. In der zweiten Variante stimmt unsere Erinnerung nicht. Der Zustand in der Vergangenheit war – so wie vom zweiten Hauptsatz beschrieben – von höherer Entropie (ein Glas Wasser ohne Eiswürfel). Dann hat sich spontan die Welt so umorganisiert, dass wir ein Glas mit halgeschmolzenen Eiswürfeln (plus die passenden Erinnerungen daran) vor uns haben.
Irgendwas ist hier faul! Es könnte natürlich wirklich so sein, dass das Universum generell ein vollkommenes ungeordnetes Dingens ist, in dem sich immer wieder mal alles spontan zu niedrig-entropischen, geordneten Zuständen zusammenfindet. Das sich zufällig die Atome des Universums so annordnen um uns alle, komplett mit den passenden Erinnerungen an eine Vergangenheit die nie stattgefunden hat zu erzeugen, ist unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Aber wenn dir diese Möglichkeit in Betracht ziehen, dann sind wir sowieso verloren. Denn unsere Überlegungen basieren ja auf physikalischen Gesetzen deren Gültigkeit wir aus der Beobachtung der Natur gewonnen haben. Wenn diese Beobachtungen aber nie wirklich stattgefunden haben, dann müssen sie auch nicht richtig sein und damit könnten auch unsere Schlußfolgerungen über Entropie, Zeit und schmelzende Eiswürfel müßig sein.
Zurück zum Anfang
Was also tun? Die Idee mit der Entropie und dem Zeitpfeil scheint gut zu funktionieren, wenn wir sie nur in eine Richtung – die Zukunft – anwenden. Die physikalischen Gesetze sagen uns aber, dass wir sie auch in die Vergangenheit anwenden müssten und dort lauert logisches Chaos und Wahnsinn 😉 Wie kommen wir da wieder raus?
Greene sagt, wir müssen nochmal einen Schritt zurück gehen. Bleiben wir beim Hühnerei. Das ist, wie wir schon festgestellt haben, ein System in einem Zustand niedriger Entropie. Veränderungen an diesem System führen zu Zuständen höherer Entropie (zerbrochenes Ei). Wenn wir also jetzt ein intaktes Ei vor uns haben, dann rechnen wir damit, dass es sich in Zukunft irgendwan in ein kaputtes Ei verwandeln wird (wieder der zweite Hauptsatz). Und anstatt jetzt wieder mit der Zeitsymmetrie der physikalischen Gesetze anzufangen, sollen wir uns lieber überlegen, wie denn das Ei überhaupt in seinen Zustand niedriger Entropie gelangte, meint Greene. Eier kommen aus Hühnern, das wissen wir. Und wie jedes andere Lebewesen ist ein Huhn ein System, das niedrigentropische Energie (z.B. in Form von Nahrung) aufnimmt und hochentropische Energie (z.B. in Form von Wärme) abgibt. Warum hat jetzt aber die Nahrung des Huhns (Pflanzen bzw. Tiere) eine niedrige Entropie? Die stammt aus der Sonne, ebenfalls ein geordnetes, niedrigentropisches System. Die stammt aus einer Gaswolke, usw. Irgendwann landen wir dann bei einem Moment kurz nach dem Urknall als das Universum von einem fast gleichförmig heißen Gas gefüllt war. Das war ein Zustand sehr niedriger Entropie und unsere heutige Ordnung (mitsamt den intakten Hühnerei) ist ein Überbleibsel dieser kosmischen Frühzeit!
Entropieänderung beim Huhn (Bild: Tomás Castelazo, GFDL 1.2)
Aber wieso soll ein gleichförmiges Gas eigentlich ein Zustand niedriger Energie sein?? Wenn das ganze Universum komplett gleichförmig von einem Gas gefüllt ist, dann sollte man doch eher meinen, dass es sich hier um einen Zustand hoher Entropie handelt? Sollte man – aber nur, wenn man die Gravitation vergessen hat. Wenn man die berücksichtigt, dann sieht das alles wieder anders aus. Denn unter dem Einfluß Gravitation würde das Gas schon bei der kleinsten Unregelmäßigkeit in der Verteilung anfangen zu klumpen und immer größere und dichtere Gebilde zu formen (so entstehen ja auch die Sterne) – bis hin zu schwarzen Löchern (die sind ja auch die Objekte, die von allen im Universum die größte Entropie haben). Wir würden eigentlich also eher erwarten, dass das Universum voll mit schwarzen Löchern ist und nicht mit einem absolut gleich verteilten Gas. Greene sagt:
“Die Zukunft ist tatsächlich die Richtung anwachsender Entropie. Der Zeitpfeil – die Tatsache das die Dinge auf diese Weise anfangen und auf jene enden, aber niemals auf jene anfangen und auf diese enden – hob in dem hochgeordneten, niederentropischen Zustand zu seinem Flug ab, den das Universum bei seinem Ursprung hatte.”
Ja – alles klar soweit. Bis auf eine Frage: Wie um alles in der Welt ist das Universum zu diesem Zustand extrem niedriger Entropie an seinem Anfang gekommen? Das ist eigentlich äußerst unwahrscheinlich! Aber damit müssen wir uns erstmal abfinden (der andere Weg hat uns ja in die logische Sackgasse geführt). Die Tatsache, dass Eier immer nur zerbrechen und nie “entbrechen” sagt uns also etwas Fundamentales über den Urknall und die Entstehung des Universums. Dieser Anfang muss auf eine ganz spezielle Weise passiert sein – und es wäre cool, wenn wir rausfinden, wie und warum das abgelaufen ist. Aber dazu dann mehr in den nächsten Kapiteln.
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