Die Tatsache, dass unser Universum eine Art Anfang gehabt haben muss; einen “Urknall” wird von der absoluten Mehrheit der Wissenschaftler als genau das angesehen: eine Tatsache. Zu überwältigend ist die Fülle an Beobachtungsdaten und theoretischen Ergebnissen die das aktuelle Standardmodell der Kosmologie bestätigen. Aber wie üblich in der Wissenschaft gibt es auch hier immer ein paar Leute, die andere Wege gehen (damit sind jetzt nicht unbedingt Anhänger des Steady-State-Universums gemeint). Gerade in der Kosmologie gibt es noch einige offene Fragen und solange die Sache mit der Quantengravitation noch nicht geklärt ist ist das auch gut so! Je mehr vernünftige Ideen man hier entwickelt, desto eher wird die richtige dabei sein. Eine interessante Theorie wurde kürzlich von Wun-Yi Shu von der Tsing Hua Universität in Taiwan veröffentlicht. In seiner Arbeit stellt er ein Universum ohne Urknall vor – dafür aber mit anderen interessanten Eigenschaften.
Der Artikel hat den Titel “Cosmological Models with No Big Bang” – und wer sich nicht durch 33 Seiten voller kosmologischer Formeln kämpfen will, der findet im arXiv-Blog eine gute Zusammenfassung. Die Grundidee von Shu ist, dass Raum und Zeit ineinander “verwandelt” werden können; genauso wie Masse und Länge. Während sich das Universum ausdehnt, wird also laufend Zeit in Raum umgewandelt und Masse in Länge.
In Shus Universum sind auch die Fundamentalkonstanten – die Gravitationskonstante und die Lichtgeschwindigkeit – nicht mehr wirklich konstant. Die neuen grundlegenden Konstanten der Kosmologie sind κ und τ wobei κ (das griechische “kappa”) der Konversionsfaktor zwischen Zeit und Raum ist und τ (das griechische “tau”) der Umrechnungsfaktor zwischen Masse und Länge.
So ein Universum wie Shu es beschreibt hat keinen Anfang – es “pulsiert” quasi ewig; Phasen der Ausdehnung wechseln mit Phasen der Kontraktion ab. Und es hat noch einige andere interessante Eigenschaften. Zum Beispiel ist die Geometrie von Anfang an festgelegt (es handelt sich um ein “flaches” Universum) und damit ist das klassische Flachheitsproblem automatisch gelöst. Und ohne Urknall müssen wir uns auch keine Gedanken um das Horizontproblem machen. Am interessantesten ist aber die Vorhersage die Shus Modell für Expansionsgeschwindigkeit unseres Universums macht. Wir wissen ja aus Entfernungsmessungen an Supernovae, dass das Universum immer schneller expandiert – schneller, als es eigentlich sollte. Die Standardkosmologie erklärt das mit der Existenz der dunklen Energie. In Shus Universum folgt die beschleunigte Ausdehung des Universums direkt aus den Grundannahmen und die Vorhersagen stimmen genau mit den Beobachtungen überein!
Also können wir den Urknall nun in die Tonne kloppen; zusammen mit der dunklen Energie und eine neue Revolution in der Kosmologie ausrufen? Nicht wirklich… Denn die Standardkosmologie erklärt auch sehr viel. Horizontproblem und Flachheitsproblem werden durch die inflationäre Kosmologie elegant gelöst und auch die dunkle Energie haben sich die Astronomen nicht einfach so aus den Fingern gesaugt. Und dann ist da noch die kosmische Hintergrundstrahlung: der beste Beleg für die Urknalltheorie. Als der COBE-Satellit Ende der 1990er Jahre das erste Mal die kleinen Variationen dieser Strahlung gemessen hatte, die die Urknalltheorie vorhergesagt hatte; war das gleichzeitig das endgültige Ende der konkurrierende Steady-State-Theorie die solche Beobachtungen nicht erklären konnte. Diese Variationen im Hintergrund sind unbestreitbar da und jede kosmologische Theorie muss erklären, warum das so ist. Die Urknalltheorie macht das äußerst erfolgreich. Shus Theorie kann die Hintergrundstrahlung überhaupt nicht erklären.
Es bleibt also abzuwarten, wie sich die Sache entwickelt. Vielleicht findet Shu (der übrigens anscheinend Professor für Statistik ist und bisher noch nichts zur Kosmologie veröffentlicht hat) noch einen Weg, die Hintergrundstrahlung einzubauen und kann konkrete Beobachtungen vorschlagen, die zwischen seiner und anderen kosmologischen Theorien unterscheiden können. Vielleicht zerreißt die kosmologische Community aber auch in den nächsten Tagen seinen Artikel und zeigt, dass alles falsch ist. Was auch immer passiert: ich bin fest davon überzeugt, dass wir eines Tages (und wenn ich wetten müsste würde ich sagen, dass dieser Tag nicht allzu weit entfernt ist) wirklich über den Anfang des Universums (oder das Fehlen eines Anfangs) genau Bescheid wissen!
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