Diverse esoterische und pseudowissenschaftliche Disziplinen bedienen sich ja besonders gerne wissenschaftler Fachausdrücke. Ein schönes Beispiel dafür sind die Wörter “Resonanz” und “Frequenz” (was das wirklich bedeutet, habe ich hier bzw. Martin hier beschrieben). Auch “Energie” ist beliebt und natürlich alles mit “Quanten” drin. Manchmal kommt es aber auch vor, dass gleich eine komplette wissenschaftliche Theorie vereinahmt wird und in ganz seltenen Fällen ist diese Vereinahmung so komplett, dass sich heute kaum jemand mehr an den wissenschaftlichen Ursprung erinnert. Bei der Geschichte um den versunkenen Kontinent Lemuria ist genau das der Fall.
Ende des 19. Jahrhunderts begann man sich langsam von der Vorstellung zu lösen, dass die Bibel eine exakte, tatsächliche Geschichte der Welt beschreibt. Man fand heraus, dass die Erde wesentlich älter sein muss als die paar Jahrtausende die in der Bibel beschrieben werden und dass in ihrer sehr viel längeren Vergangenheit diverse spannende Dinge passiert sein müssen. Man untersuchte die Geologie der verschiedensten Erdteile und Regionen und stieß dabei auf seltsame Übereinstimmungen. Gesteine an der Küste des einen Kontinents ähnelten denen an der Küste eines ganz anderen Kontinents. Noch interessanter wurde die Sachlage durch das Aufkommen der Biogeografie. Naturforscher durchstreiften die Erde und beschrieben die dort auftretenden Tier- und Pflanzenarten. Einer von ihnen war Philip Lutley Sclater.
Er untersuchte die Lemuren (diese Tiergruppe wurde damals noch weiter gefasst als heute) die in Madagaskar, den Komoren, Südindien, Sri Lanka und diversen sudostasiatischen Inseln lebten. Dabei stellte er fest, dass diese Tiere zwar weit voneinander entfernt lebten, aber doch sehr nahe verwandt zu sein schienen. Das zu erklären war damals schwierig. Ok, vielleicht haben sich die kleinen Primaten an Treibholz festgehalten und sind so von Afrika bis Madagaskar gekommen. Aber auf diese Art und Weise können sie auf keinen Fall den indischen Ozean überquert und Sri Lanka oder Indien erreicht haben. 1864 veröffentlichte Sclater seinen Aufsatz mit dem Titel “The Mammals of Madagascar” und schlug darin eine Lösung für dieses Problem vor auf die vor ihm schon der Botaniker Joseph Dalton Hooker gestoßen war um die Verbreitung von Pflanzen in Australien und Südamerika zu erklären: eine Landbrücke!
Wenn die Tiere offensichtlich nicht von Madagaskar bis Indien geschwommen sein können, dann müssen sie eben gelaufen sein. Also muss es zwischen Afrika und Indien eine Landbrücke gegeben haben die mittlerweile im Meer versunken ist. Dass sich verschiedene Regionen der Erde vertikal bewegen, dass also auch der Meeresspiegel immer wieder steigt und fällt, war damals schon bekannt. Man kannte ja jede Menge eindeutig marine Fossilien die sich hoch oben im Gebirge befanden. Und anscheinend musste es da auch einmal einen heute versunkenen Kontinent gegeben haben, der Afrika und Indien verband und es den Lemuren erlaubte, sich auszubreiten. Sclater gab ihm den passenden Namen Lemuria. Die Idee kam bei den wissenschaftlichen Kollegen gut an. Der Jenaer Biologie Ernst Haeckel, Wegbereiter der Darwinschen Evolutionstheorie in Deutschland, veröffentlichte 1868 seine “Natürliche Schöpfungsgeschichte” und publizierte dort auch eine Karte, die die Ausbreitung der Menschen über die Erde illustrierte. Ausgangspunkt dieser Wanderung war laut Haeckel Lemuria das er in seiner Karte auch noch provokativ mit “Paradies” beschriftete…
Das rückte Lemuria natürlich nochmal extra in das Bewusstsein der Menschen und der Kontinent begann auch die breite Öffentlichkeit zu inspirieren. Friedrich Engels schrieb 1876 in seinem Werk “Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen”:
“Vor mehreren hunderttausend Jahren, während eines noch nicht fest bestimmbaren Abschnitts jener Erdperiode, die die Geologen die tertiäre nennen, vermutlich gegen deren Ende, lebte irgendwo in der heißen Erdzone – wahrscheinlich auf einem großen, jetzt auf den Grund des Indischen Ozeans versunkenen Festlande – ein Geschlecht menschenähnlicher Affen von besonders hoher Entwicklung.”
Und H.G. Wells schreibt in seiner 1919 veröffentlichten “Outline of History”
“We do not know yet the region in which the ancestors of the brownish Neolithic peoples worked their way up from the Palaeolithic stage of human development. Probably it was somewhere about south-western Asia, or in some region now submerged beneath the Mediterranean Sea or the Indian Ocean, that, while the Neanderthal men still lived their hard lives in the bleak climate of a glaciated Europe, the ancestors, of the white men developed the rude arts of their Later Palaeolithic period.”
Der versunkene Kontinent als Ursprung der Menschheit war damals also sehr populär. Besonders gut fanden die Tamilen die Lemuria-Theorie. Dieses Volk aus Südindien hat – so wie viele andere Völker auch – jede Menge Mythen und Legenden; unter anderem eine von einer großen Flut; genannt Katalkol. Katalkol verschlang die Urheimt der Tamilien und zerstörte ihre große Kultur von der heute nur ein Rest geblieben ist. Das passte natürlich wunderbar zur Lemuria-Theorie und die Tamilien sahen darin eine Bestätigung ihres Mythos. Kein geringerer als der erste senegalesische Präsident, Léopold Sédar Senghor (der nicht nur Politiker sondern auch Dichter war) erklärte, Katalkol hätte erst vor kurzem stattgefunden, in der Jungsteinzeit, die Völker in Ägypten und Mesopotamien hätten ihr Wissen von den Überlebenden aus Lemuria bezogen und die Tamilen wären das ursprüngliche Volk aus denen sich alle Menschen entwickelt haben. Diese “Theorie” kam bei bestimmten Menschen natürlich gut an und selbst die für Wissenschaft zuständigen Politiker des indischen Bundestaates Tamil Nadu waren noch 1971 davon überzeugt, dass Lemuria erst vor kurzer Zeit unterging und vergaben entsprechende Forschungsaufträge.
Richtig esoterisch wurde es aber erst, als Helena Petrovna Hahn eingriff. Sie ist besser bekannt als Helena Blavatsky, Begründerin der Theosophischen Gesellschaft, Vorläuferin der späteren New-Age und Esoterik-Bewegung. Im Gegensatz zur eher westlich geprägten “Geheimlehre” der Freimaurer und Rosenkreuzer entwickelte sie ein Modell, dass auf der östlichen Philosophie basierte. Natürlich wurde auch der Ursprung der Menschheit durch das esoterische Wissen erklärt und wenig überraschend hat er in Lemuria stattgefunden. Mit der usprünglichen, wissenschaftlichen Erklärung von Sclater hatte Blavatskys “Theorie” allerdings nicht mehr zu tun. Sie spricht in “Die Stanzen des Dzyan” (1888) von sieben “Wurzelrassen” von denen die dritte auf Lemuria gelebt haben soll. Diese Wesen hatten krumme Beine, vier Arme, Augen auf dem Hinterkopf, waren Hermaphroditen und legten Eier. Gemeinsam mit den Dinosaurieren (ja, tatsächlich!) lebten sie in Lemuria und erfanden den Sex. Das führte aber zum Untergang von Lemuria. Ihre Nachkommen, die vierte Wurzelrasse, waren die Bewohner von Atlantis die mit ihrem Kontinent aber auch nicht wesentlich mehr Glück hatten. Erst danach kamen wir Menschen.
Während in der Öffentlichkeit immer wildere Spekulationen über den versunkenen Kontinent Lemuria Fuss fassten, stellten die Wissenschaftler fest, dass sie eventuelldoch keine Landbrücken brauchten, um die Verteilung von Tieren und Pflanzen zu erklären. Denn langsam setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Erdteile sich auch horizontal über die Erde bewegen können. Man entdeckte die Plattentektonik! Diese Idee war zwar anfangs umstritten, nach den experimentellen Bestätigungen die durch die Messungen an den mittelozeanischen Rücken in den 1960ern eindeutig belegten, dass sich die Kontinentalplatten bewegten wurde sie aber schnell umfassend akzeptiert. Es war nun nicht mehr nötig, Landbrücken zwischen den Kontinenten zu postulieren; die Kontinenten selbst konnten sich bewegen und waren früher näher zusammen als heute was die Verbreitung der Tier- und Pflanzenarten erklärt. Lemuria war überflüssig geworden.
Das wissenschaftliche Modelle sich ändern bzw. mit neuen Erkenntnissen nicht mehr gebraucht werden, ist nichts außergewöhnliches. So funktioniert Wissenschaft. Aber normalerweise verschwinden solche obsoleten Modelle wie z.B. das geozentrische Weltbild dann in den Geschichtsbüchern. Lemuria aber führte sein Leben in der Welt der Esoterik weiter. Die “Theorie” von Helena Blavatsky nach der wir Menschen nur die Nachkommen einer älteren, weiseren Menschenrasse (oder je nach Spielart manchmal auch: Alienrasse) vom untergegangenen Kontinent Lemuria sind, gehört heute zum Standardwissen in der Esoterik.
Wer mehr über die Geschichte von Lemuria erfahren will, dem kann ich das hervorragende Buch Superkontinent: Das geheime Leben unseres Planeten: Eine abenteuerliche Reise durch die Erdgeschichte” von Ted Nield empfehlen. Darin werden nicht nur die fiktiven Kontinenten Lemuria und Mu beschrieben sondern vor allem die echten Superkontinente. Nield bietet einen verständlichen und äußerst spannenden Überblick über die Vergangenheit unseres Planeten und die Superkontinenten Pangäa, Rodinia, Pannotia, Columbia und all die anderen die es vor Milliarden Jahren gab. Neben jeder Menge Geologie lernt man auch, wie wichtig die Rolle der Plattentektonik für die Erde in ihrer Gesamtheit ist und welche Auswirkungen sie auf die Entstehung und die Entwicklung des Lebens hatte (und welche Auswirkungen die Enstehung und Entwicklung des Lebens auf die Geologie der Erde hatte). “Superkontinent” gehört zu den besten Büchern über Geologie/Geophysik die ich bis jetzt gelesen habe!
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