Letztes Jahr im September gab es ziemliche Aufregung unter den Physikern. Man hat bei einem Experiment am CERN Teilchen gemessen, die sich schneller als das Licht bewegt hatten. Damit hat eigentlich niemand gerechnet, denn die Relativitätstheorie sagt, dass so etwas nicht möglich ist – und sie gehört immerhin zu den experimentell am besten überprüften Theorien! Aber wer weiß – vielleicht ist ja doch was dran, dachte man sich damals. Vielleicht muss man Einsteins Theorie doch erweitern. Mit Beobachtungsdaten kann man nicht streiten. Wenn die Neutrinos schneller als das Licht sind, dann sind sie schneller als das Licht. Aber war das denn wirklich der Fall? Die Messungen bei diesem Experiment waren enorm komplex und es gab jede Menge Möglichkeiten, Fehler zu machen. Darum haben die Wissenschaftler auch nicht die Widerlegung Einsteins verkündet, sondern einfach nur den Rest der Wissenschaftsgemeinde gebeten, bei der Fehlersuche zu helfen. Wie es scheint, hat man den Fehler nun tatsächlich gefunden. Es soll ein kaputtes Kabel gewesen sein…
So gut wie alle Wissenschaftler waren eigentlich davon überzeugt, dass bei dem Experiment irgendein Fehler passiert sein muss. Nicht nur weil, wie schon gesagt, die Relativitätstheorie in den letzten hundert Jahren so oft und so gut durch Beobachtungen und Messungen bestätigt wurde, dass es sehr unwahrscheinlich wäre, wenn ihr ein Experiment plötzlich widerspricht. Sondern auch, weil andere aktuelle Experimente deutlich zeigten, dass sich Neutrinos eben nicht schneller als das Licht bewegten.
Jetzt, fünf Monate später, hat man anscheinend den Fehler gefunden (Jörg hat gestern schon darüber geschrieben). In einer Kolumne des Science-Magazins schreibt Edwin Cartlidge, dass ein schlechtes Kabel für die Messungen verantwortlich ist. Das Experiment bestand ja aus Neutrinos, die vom CERN in Genf ausgesandt wurden und an einem Detektor in Italien registriert werden sollten. Damit man weiß, wie schnell sie sind, muss man natürlich ganz exakt bestimmen, wann sie losfliegen und wann sie ankommen. Das hat man mit GPS-Satelliten gemacht und da muss man immer enorm aufpassen, weil man ja auch die Zeit berücksichtigen muss, die das Signal von und zum Satelliten braucht, etc. Man muss also ganz genau rechnen und ganz genau aufpassen. Das haben die Leute auch getan, aber sie haben anscheinend ihre Ausrüstung nicht komplett überprüft. Nachdem ein Verbindungskabel zwischen GPS-Empfänger und dem Computer der Forscher nochmal neu angesteckt wurde, kommen die Neutrinos auf einmal 60 Nanosekunden später an – und bewegen sich damit nun genau so schnell, wie sie es laut Relativitätstheorie sollen. Es war keine Überlichtgeschwindigkeit, die man gemessen hatte, sondern nur den Effekt einer schlechten Verbindung.
Nun, was soll man dazu sagen? Erstmal muss man festhalten, dass es noch keine Bestätigung gibt. Der Science-Kolumnist beruft sich auf “sources familiar with the experiment”. Es gibt noch kein offizielles Statement der Forscher bzw. eine offizielle wissenschaftliche Publikation, die den Fehler genau analysiert und reproduziert. Es scheint aber durchaus wahrscheinlich zu sein. Im “News Blog” der Fachzeitschrift Nature zitiert Eugenie Samuel-Reich eine Mitteilung der OPERA Collaboration, also der Gruppe, die das Experiment durchgeführt hat:
“The OPERA Collaboration, by continuing its campaign of verifications on the neutrino velocity measurement, has identified two issues that could significantly affect the reported result. The first one is linked to the oscillator used to produce the events time-stamps in between the GPS synchronizations. The second point is related to the connection of the optical fiber bringing the external GPS signal to the OPERA master clock.”
Man möchte aber noch keine definitiven Aussagen über die Fehlerquelle machen, sondern alles erst noch in Ruhe prüfen.
Sollte die Geschichte tatsächlich stimmen, dann ist das natürlich enorm peinlich für die Forscher. Nicht, weil sie einen Fehler gemacht haben. So etwas kommt nun mal vor, auch Wissenschaftler sind nur Menschen und Menschen machen Fehler. Jeder, der schon mal in einem Labor gearbeitet (oder auch nur einen Computer verkabelt) hat, wird bei seiner Arbeit ähnliche Fehler gemacht haben. Fehler zu machen ist Teil der Wissenschaft. Aber wenn man an die Öffentlichkeit geht und verkündet, dass man Daten hat, die zeigen, dass sich Neutrinos schneller als das Licht bewegen; wenn man erzählt, dass man alle in Frage kommenden Fehlerquellen geprüft hat und den Rest der wissenschaftlichen Gemeinschaft bittet, nun bei der Suche nach Erklärungen zu helfen und sich der Fehler dann als schlechte Kabelverbindung heraus stellt, dann ist das tatsächlich peinlich. Normalerweise sollte die Überprüfung des kompletten Equipments in so einem Fall zu den ersten Dingen gehören, die man macht.
Wenn sich die Geschichte mit dem falschen Kabel bestätigt, dann ist die Sache mit der Überlichtgeschwindigkeit damit erledigt – und die Story wird in Zukunft in allen Büchern mit Anekdoten über wissenschaftliche Experimente vertreten sein. Ich persönlich bin ja gespannt, wie die Pseudowissenschaftler und Esoteriker damit umgehen. Für die war ja schon seit September klar: “Einstein ist widerlegt, die moderne Wissenschaft liegt falsch und [hier die jeweils favorisierte absurde Idee einsetzen] ist deswegen richtig!” Wird nun akzeptiert werden, dass es sich um einen Fehler beim Experiment gehandelt hat? Oder wird man sich etwas neues ausdenken? Vielleicht eine kleine Verschwörungstheorie, wie das CERN mit der Geschichte über das Kabel alles nur vertuschen wollte? Wie so etwas laufen kann, hat man ja wunderbar bei der Geschichte über Planet X und das Weltraumteleskop IRAS gesehen. 1983 hat das Teleskop jede Menge Dinge beoabachtet, von denen man erstmal nicht wusste, um was es sich handelt. In einem Interview meinte ein Astronom, dass es zwar sehr unwahrscheinlich ist, aber es sein könnte, dass man einen bisher unbekannten Planeten entdeckt hat. Daraufhin verbreitet sich die Geschichte “NASA entdeckt Planet X!”. Ein paar Monate später haben die Wissenschaftler alle unbekannten Quellen identifiziert: es war kein Planet mit dabei. Diese neuen Informationen haben die Pseudowissenschaftler aber nicht interessiert und die Geschichte von der NASA, die einen unbekannten Planeten entdeckt hat (und seitdem alles vertuscht) macht heute, fast 30 Jahre nachher, immer noch die Runde. Mal sehen, ob die “überlichtschnellen Neutrinos” auch in die pseudowissenschaftliche Mythologie eingehen… 😉
Nachtrag: Nur damit kein falscher Eindruck entsteht (wie in den Kommentaren angedeutet wurde): Ich mache den Wissenschaftlern am CERN keinen Vorwurf. Experimente dieser Art sind komplex und Fehler manchmal schwer zu finden, selbst wenn man sich Mühe gibt. Es ist zwar tatsächlich peinlich, wenn sich das Ergebnis der Messungen jetzt nur als Effekt einer schlechten Kabelverbindung herausstellt. Man muss die Wissenschaftler aber auch ganz explizit loben. Sie waren mutig genug, sich mit Ergebnissen dieser Art an die Öffentlichkeit zu wagen. Wenn man sich nicht traut, angesichts von Beobachtungdaten, die man nach besten Wissen geprüft hat, auch etablierte Theorien in Frage zu stellen, dann kann es keinen richtigen wissenschaftlichen Fortschritt geben. Das die Daten nun doch falsch waren, ist ein Risiko, mit dem man in der Wissenschaft leben muss. Die Episode hat allerdings sehr gut gezeigt, dass Wissenschaftler 1) keine Hemmungen haben, auch die ganz “großen” Theorien anzuzweifeln und dass 2) Fehler dank der wissenschaftlichen Methode früher oder später immer gefunden werden.
Kommentare (104)