Henry Reich, der Autor der empfehlenswerten YouTube-Serie minutephysics, hat kürzlich einen offenen Brief an US-Präsident Barack Obama geschrieben. Darin weist er den Präsidenten darauf hin, dass sich ein Großteil des amerikanischen Schulstoffes in Physik mit über 100 Jahre alten Erkenntnissen beschäftigt. All das, was seit Beginn des 20. Jahrhunderts geschehen ist, wird ignoriert. Und das ist einiges. Das ist die Relativitätstheorie, die Quantentheorie und die moderne Urknall-Kosmologie. Das ist im wesentlichen all das, was die moderne Physik ausmacht. Aber seht selbst:
Henry Reich hat auch Brady Haran besucht, der eine weitere meiner Lieblings-YouTube-Serien macht: Sixty Symbols. Haran hat die Wissenschaftler an der Universität Nottingham über ihre Meinung zum englischen Schulsystem gefragt:
In den USA ignoriert man als die moderne Physik; in Großbritannien ist es die Mathematik, die vernachlässigt wird. Wie sieht es bei uns aus?
Meine Schulzeit – in Österreich – ist schon lange vorbei. Ich kann mich noch erinnern, dass wir in der 8. Klasse (entspricht der 12. in Deutschland) von der Existenz der Relativitätstheorie und der Quantentheorie erfahren haben. Aber so richtig ausführlich erklärt wurde das Thema nicht. In Mathematik war die Situation noch schlechter. Das was bei uns passierte, konnte man bestenfalls “Rechnen” nennen; mit Mathematik hatte das nichts zu tun. Den ersten mathematischen Beweis habe ich auf der Uni kennengelernt. Wahrscheinlichkeitsrechnung wurde kurz mal in der 6. Klasse (in D: Klasse 10) erwähnt und dann nie wieder (weswegen ich heute noch meine Probleme damit habe) und gleiches gilt für die Integralrechnung und viele andere eigentlich selbstverständliche Dinge. Aber das lag am Lehrer (der gleiche den wir auch in Physik hatten) und nicht unbedingt am Schulsystem. Ich habe mal in den Lehrplan für Physik geschaut um zu sehen, wie die Sache offiziell aussieht.
Ich beziehe mich hier auf die Lehrpläne der AHS-Oberstufe in Österreich (hauptsächlich deswegen, weil ich das deutsche Schulsystem immer noch nicht ganz durchblickt habe). AHS, die Allgemeinbildenden Höheren Schulen sind im wesentlichen das, was in Deutschland die Gymnasien sind (es gibt in Österreich dann noch eine Hauptschule, aber keine “Realschule” die irgendwo dazwischen liegt, so wie in Deutschland). Im Lehrplan für den Pflichtunterricht in Physik kann man sehen, dass in der 5. und 6. Klasse (in D: Klassen 9 und 10) der Schwerpunkt auf der klassischen Physik liegt, in der 7. und 8. Klassen (in D: Klassen 11 und 12) aber durchaus die moderne Physik vorkommt. So sollen die Schülerinnen und Schüler zum Beispiel folgende Ziele erreichen:
“*) Licht als Überträger von Energie begreifen und über den Mechanismus der Absorption und Emission die Grundzüge der modernen Atomphysik (Spektren, Energieniveaus, Modell der Atomhülle, Heisenberg’sche Unschärferelation, Beugung und Interferenz von Quanten, statistische Deutung) verstehen
*) Einblicke in die Struktur von Raum und Zeit (Entwicklungsprozesse von Weltsichten zur modernen Kosmologie, Gravitationsfeld, Grundgedanken der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, Aufbau und Entwicklung des Universums) gewinnen
*) Verständnis für Paradigmenwechsel an Beispielen aus der Quantenphysik oder des Problemkreises Ordnung und Chaos entwickeln und Bezüge zum aktuellen Stand der Wissenschaft / Forschung herstellen können
*) Verständnis für die schrittweise Verfeinerung des Teilchenkonzepts, ausgehend von antiken Vorstellungen bis zur Physik der Quarks und Leptonen, gewinnen und damit die Vorläufigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse verstehen.”
Das klingt eigentlich ganz in Ordnung und nach ausreichend moderner Physik. Wie es natürlich in der Realität umgesetzt wird, ist eine ganz andere Sache. Das hängt immer vom Lehrer ab; genauso wie auch die Vermittlung der Mathematik. Ob man am Ende der Schulzeit von mathematischen Formeln abgeschreckt wird oder nicht, hängt leider nicht vom Lehrplan ab, sondern vom Lehrer. Es ist um jedes Kind schade, dass in der Schule “lernt”, dass Mathematik langweilig ist, unverständlich und kompliziert. Wie viele Jugendliche haben sich nach der Matura/dem Abitur wohl trotz großem Interesse gegen ein naturwissenschaftliches Studium entschieden, weil sie Angst vor der Mathematik hatten und etwas studiert, was ihnen viel weniger Spaß macht, als die Wissenschaft?
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