Am 15. Februar 2013 ist etwas wirklich Außergewöhnliches passiert. Ein Asteroid stieß mit der Erde zusammen und explodierte über der russischen Provinz Tscheljabinsk als Meteor. Das Ereignis an sich ist nicht so selten und einmalig wie man denkt. Aber der spezielle Fall von Tscheljabinsk ist es! Zum ersten Mal seit wir vernünftige Aufzeichnungen haben ging ein Asteroid über besiedeltem Gebiet nieder UND verursachte dabei große Schäden und viele Verletzte. Zum ersten Mal wurde die Kollision der Erde mit einem vergleichsweise großen Himmelskörper so intensiv gefilmt, beobachtet, kommentiert und die Information per Internet in alle Länder getragen. Zum ersten Mal haben wir persönlich und direkt einen kleinen Eindruck davon bekommen, was so ein Asteroideneinschlag auf der Erde anrichten kann. Und wenn es auch über tausende Verletzte gab und ein viele Millionen Euro teure Schaden angerichtet wurde, ging die Sache noch relativ harmlos aus. Wäre der Asteroid ein klein wenig größer gewesen oder ein klein wenig tiefer in der Atmosphäre explodiert, dann wären nicht nur die Fensterscheiben zerbrochen, sondern die Häuser eingestürzt.
Der Meteor von Tscheljabinsk hat uns eindrucksvoll und dramatisch wie nie zuvor vor Augen geführt, dass wir nicht getrennt vom Rest des Universums existieren. Das, was da draußen passiert, betrifft auch uns. Asteroideneinschläge passieren nicht nur in Hollywoodfilmen, sondern auch im echten Leben. Es fallen tatsächlich große Felsbrocken aus dem All auf die Erde und es kommen dabei tatsächlich Menschen zu Schaden. Man sollte eigentlich meinen, dass sich die Medien für so ein Thema interessieren…
Sollte man meinen, ja. Und am Tag des Meteors selbst war das natürlich auch eine Nachricht, die in allen Nachrichtensendungen gebracht wurde. Aber schon am Tag danach waren andere Dinge wieder interessanter und in den letzten Tagen ist das Thema schon wieder fast komplett verschwunden. Ich habe mal nachgesehen, was die “großen” Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen in dieser Woche so interessiert hat. Das waren die Themen/Gäste:
- Günther Jauch: Verschleppt und misshandelt – wie gelingt ein Leben danach?
- Hart aber Fair: Rind gekauft, Pferd gegessen – Was steckt noch in unserem Essen
- Menschen bei Maischberger: Einbruchsparadies Deutschland
- Maybrit Illner: Ausgepowert, ausgelagert, ausgebeutet? Macht Arbeit krank?
- Anne Will: 80 Jahre nach Hitlers Machtergreifung – wie stabil ist unsere Demokratie heute?
- Beckmann: Sind wir auf dem Weg in die Ego-Gesellschaft?
- Markus Lanz Dienstag: Dr. Edmund Stoiber, Lizzy Aumeier, Christiane und Maresa Hörbiger, Lena Meyer-Landrut, Wigald Boning
- Markus Lanz Mittwoch: Peter Neururer, Axel Kruse, Minh-Khai Phan-Thi, Klaus Baumgart, Werner Hansch
- Markus Lanz Donnerstag: Dirk Niebel, Tony Marshall, Claudelle Deckert, Jan Böhmermann, Yared Dibaba
Das übliche Programm also und nirgendwo ein Wort über den Meteor oder gar ein Wissenschaftler (Rangar Yogeshwar ist Gast bei Maybrit Illner, was allerdings nur Zufall zu sein scheint). Jetzt könnte man natürlich auf die Idee kommen, ich hätte als Astronom einfach nur ein verzerrtes Bild der Welt und unrealistische Ansprüche. Wenn in Russland ein paar Fensterscheiben zerbrechen, warum soll man dann in Deutschland darüber diskutieren? Außerdem geht es in diesen Talkshows eben um Politik und wichtige gesellschaftliche Themen und nicht um Wissenschaft!
Und genau das ist das Problem. Wissenschaft IST ein wichtiges gesellschaftliches Thema und Wissenschaft IST ein politisches Thema. Wir konnten am Freitag in Russland eine Naturkatastrophe beobachten, die wir bis jetzt noch so gut wie nie beobachten konnten. Eine Naturkatastrophe, die zwar vergleichsweise selten auftritt, die aber im Gegensatz zu allen anderen Naturkatastrophen viel zerstörerischer sein kann. Keine andere Naturkatastrophe hat das Potential, alle Menschen auf der Erde zu töten, das kriegen nur Asteroiden hin. Und keine andere Naturkatastrophe kann prinzipiell vorhergesagt und vor allem verhindert werden. Allerdings nur dann, wenn die entsprechende Infrastruktur existiert und entsprechend investiert wird. Das wären durchaus Themen, die man diskutieren könnte. Man könnte über Forschungspolitik diskutieren und darüber, ob man Geld für die Überwachung des Himmels ausgeben sollte. Ob es nötig wäre, eine internationale Organisation zu schaffen, die sich darum kümmert. Ob der Katastrophenschutz entsprechende Notfallpläne vorliegen hat und, so wie bei Überschwemmungen oder Erdbeben, weiß, mit was man bei einem Asteroideneinschlag zu rechnen hat. Ob man mehr Geld in die Raumfahrt und die Erforschung der Asteroiden investieren soll. Ob man vielleicht sogar bemannte Missionen zu Asteroiden durchführen soll. Oder ob wir uns damit abfinden, die Asteroideneinschläge als selten auftretende Akte “höherer Gewalt” zu betrachten und nichts dagegen zu unternehmen, obwohl wir das könnten. Fragen gäbe es genug; gesellschaftliche Fragen und politische Fragen. Aber eben auch wissenschaftliche Fragen und damit anscheinend ungeeignet für Fernsehdiskussionen.
Ich hatte ja gehofft, dass sich wenigstens die einzige regelmäßige wissenschaftliche Diskussionsrunde im ÖR-Fernsehen mit dem Thema beschäftigt. Aber auch bei Scobel auf 3sat geht es wieder mal nur ums Essen. Das Thema lautet:
- Essen – getäuscht und abgespeist? Was uns die Lebensmittelchemie alles vorgaukelt
(Anscheinend ist Pferdefleisch im Essen deutlich relevanter und wichtiger als ein Asteroideneinschlag… Zu dem Thema empfehle ich übrigens diese Kolumne, da ist eigentlich alles zum Fleischskandal gesagt.)
Wissenschaft darf im Fernsehen anscheinend nur in den eigens dafür vorgesehenen Wissenschaftssendungen passieren – die dann meistens auf irgendwelchen unattraktiven Sendern und Programmplätzen versteckt werden. Sicherheitshalber habe ich mir auch noch die Themen der verschiedenen ÖR-Wissenschaftssendungen der aktuellen Woche angesehen:
Wissen vor acht (ARD):
- Gemeinsam übersetzen
- Das Batteriespray
- Wieso misslingt die Teezubereitung im Gebirge?
- Seit wann kennen wir das Prinzip der Schraube?
- Können Schatten schneller sein als das Licht?
Quarks & Co (WDR):
- 8000 Jahre Alkohol – eine Kulturgeschichte
Abenteuer Forschung (ZDF):
- Blackout – Geht uns das Licht aus? Wie begründet ist die Angst vor langen Stromausfällen?
Planet Wissen (BRAlpha):
- Warme Wohnung ohne Mieterhöhung – so funktioniert Energiesparen
- Exzentriker – Irgendwie anders sein
- Zivilcourage
- Ungewollt kinderlos – Diagnose unfruchtbar
- Alkohol – Die Lust am Rausch
Lexi TV (MDR):
- Brüssel
- Das Politbüro
- Barock
- Transit durch den Osten
- Eliteeinheiten
Faszination Wissen (BR):
- Zerstörerische Stürme – Können wir uns schützen?
W wie Wissen (ARD):
- Diebische Delfine
- Kakerlaken, Geckos und Roboter
- Das “größte” Raubtier der Welt: Die Argentinische Ameise
- Wolf und Hund
X:enius (Arte):
- Sind Impfungen heute wirklich noch notwendig
- Empört eucht – mit Herz und Verstand zur ethischen Revolution
- Mimik – Was verrät sie über uns?
- Spurensuche – Was ist heute möglich?
- Moral – Dürfen wir alles, was möglich ist?
Nano (3sat):
- Wissen, woher das Fleisch kommt / Gülle-Flut / Herzchirurgen kritisieren die Mitra-Clips / DNA im Umbau / aha: Schimmel – Gefahr im Wohnraum / Mehr Raum für wilde Feldhamster
- nano spezial: Öko – Bio – Besser?
- Allensbach-Umfrage – Gerechtigkeit vermisst / Arme sterben früher / Die Luftwaschanlage / Umstrittene Eisenkur gegen den Klimawandel / Biber ziehen in die Stadt / Singvögel orientieren sich auch über Geruch
- Impfstoffe ohne Eier herstellen
- Rapssorte “Clearfield” – Ein unklares Feld / Spielen ist menschlich
Jede Menge mehr oder weniger interessante Themen. Aber nichts über den Meteor und nicht mal irgendwas über Astronomie (Am Freitag selbst hatte nano auf 3sat allerdings einen kurzen Beitrag über den Asteroid 2012DA14 und zeigte davor circa eine Minute lang einen Bericht über die Ereignisse in Russland).
Vielleicht habe ich ja wirklich unrealistische Vorstellungen. Vielleicht finde ich den Meteor von Russland nur deswegen so eindrucksvoll, weil ich Astronom bin. Vielleicht ist es tatsächlich völlig egal, was irgendwo im fernen Ural passiert.
Aber es sollte nicht egal sein! Wissenschaft IST wichtig. Und sollte daher auch im Fernsehen stattfinden, auf Programmplätzen, wo viele Menschen zusehen und nicht versteckt in den dritten Programmen und Spartensendern. Wissenschaft ist das, was unser Leben bestimmt (auch wenn das vielen nicht bewusst ist, eben weil man so selten etwas darüber erfährt) und wir sollten darüber informiert sein. Und informiert werden. Aber im Fernsehen scheint man Angst zu haben, über Wissenschaft zu sprechen. Man scheint immer noch zu glauben, man würde damit die Menschen verschrecken. Und könne nur dann eine vernünftige Talk-Show produzieren, wenn mindestens ein Casting-Show-“Promi” mit dabei ist. Oder einer der Handvoll Politiker, deren Gesichter man auch in allen anderen Talk-Shows gesehen hat (zur Typologie der immer gleichen Talks-Show-Gäste gibt es bei Zeit Online einen sehr schönen Artikel). Oder ein Koch (ernsthaft, das ZDF schafft es, mindestens zwei Kochsendungen täglich auszustrahlen, aber die einzige halbwegs brauchbare Wissenschaftssendung gibt es nur einmal pro Woche spät am Abend). Ich bin immer wieder fasziniert (und deprimiert), wenn ich mir Fernsehsendungen in Großbritannien ansehen. Da gibt es Astronomie im Fernsehen und Mathematik. Es gibt regelmäßige Diskussionsrunden über Wissenschaft zu vernünftigen Zeiten. Wissenschaft ist interessant und man kann damit tatsächlich auch ein Fernsehprogramm gestalten. Man muss sich nur mal trauen. Wenn man den Menschen allerdings immer einredet, in einer Talk-Show dürften nur Z-Promis und Politiker zu Wort kommen, aber keine Wissenschaftler, dann werden die Menschen das auch irgendwann glauben.
Der Meteor von Russland war ein außergewöhnliches und wichtiges Ereignis. Und in seiner Dramatik eigentlich ideal für eine mediale Verwertung geeignet. Dass die Medien dieses Thema so konsequent ignorieren zeigt deutlich, welchen Stellenwert die Wissenschaft bei ihnen einnimmt.
Kommentare (175)