Dunkle Materie ist keine Erfindung, wie wir in Teil 1 der Serie festgestellt haben. Schon seit bald 80 Jahren gibt es Beobachtungsdaten, die uns zeigen, dass im Universum tatsächlich mehr sein muss, als nur das, was leuchtet. Diese Entdeckungen habe ich in Teil 2 und Teil 3 der Serie erklärt. Und in Teil 4 war das frühe Universum an der Reihe, das uns ebenfalls zeigte, dass dunkle Materie existieren muss.
Aber existiert sie denn tatsächlich? Kann es nicht noch eine andere Erklärung geben? Seit im Jahr 2006 der berühmte “Bullet-Cluster” beobachtet wurde, hört man oft, die dort gewonnenen Daten wären ein “Beweis” für die Existenz der dunklen Materie. Das stimmt allerdings nicht. Die dunkle Materie existiert aber trotzdem.
Am besten, wir fangen nochmal ganz am Anfang an. 1933 entdeckte Fritz Zwicky, dass sich die Galaxien in Galaxienhaufen so verhalten, also wäre dort mehr Masse als man sehen konnte. Beobachtungsdaten von Sternen in Galaxien in den 1970er Jahren und diverse kosmologische Beobachtungen und Überlegungen bestätigten diesen Befund. Es schien dort draußen sehr viel mehr Masse zu geben als nur die normale, leuchtende Materie.
Aber dunkle Materie war anfangs nicht die einzige Möglichkeit, die Beobachtungen zu erklären. Wenn sich Sterne und Galaxien nicht so bewegen, wie man es erwartete, dann konnte es dafür zwei Gründe geben. Entweder es existiert ein noch unbekannter Einfluss, der in der Berechnung nicht berücksichtigt wurde und die Abweichung verursacht. Das wäre dann die dunkle Materie. Oder aber die Berechnung selbst ist falsch! Vielleicht verwenden wir die falsche Formel, um die Bewegung von Himmelskörpern zu berechnen. Das wäre nicht so außergewöhnlich, wie es klingt. Newtons Gravitationsgesetz, das seit Jahrhunderten höchst erfolgreich für Berechnungen dieser Art verwendet wird, hat sich schon einmal als unzureichend herausgestellt. Die Bewegung des Planeten Merkur wollte sich damit einfach nicht beschreiben lassen. Ende des 19. Jahrhunderts vermutete man auch hier eine bisher noch unbekannte Masse als Grund für die Abweichung: einen sonnennahen Planeten namens “Vulkan”. Aber dieer Planet existierte nicht. Man hatte einfach die falsche Formel verwendet (ich habe die ganze Geschichte hier ausführlich beschrieben). Albert Einstein veröffentlichte 1915 seine Allgemeine Relativitätstheorie und zeigte, dass Newtons Formel nur ein Spezialfall seiner viel umfassenderen Betrachtung der Gravitation war.
Wenn es nur um “normale” Anwendungen geht, dann liefern Newton und Einstein die selben Ergebnisse. Nur in Extremfällen ist Newton nicht mehr genau genug. Zum Beispiel, wenn die Gravitationskräfte besonders stark werden, wie es in der Nähe der Sonne der Fall ist, wo sich Merkur bewegt. Hier muss man die Formeln von Einstein verwenden. Wenn also die Bewegung der Galaxien ebenfalls von der Erwartung abweicht: Warum nicht nochmal nach einer neuen Formel suchen? Die Beschleunigungen, die hier wirken, sind sehr gering. Vielleicht muss das Gravitationsgesetz auch für niedrige Beschleunigungen korrigiert werden?
Das dachte sich auch der israelische Physiker Mordehai Milgrom, der 1983 die MOND-Hypothese vorschlug. MOND steht für Modifizierte Newtonsche Dynamik und beschreibt genau das: Eine modifizierte Formel zur Berechnung der Gravitationskraft. Anstatt Kraft = Masse mal Beschleunigung (Newtons erstes Gesetz) sollte nun gelten: Kraft = Masse mal Beschleunigung multipliziert mit einem bestimmten Faktor, der dann wirksam wird, wenn die Beschleunigung sehr klein ist. Eine entsprechende Modifikation der Allgemeinen Relativitätstheorie existiert ebenfalls und heißt TeVeS (Tensor-Vektor-Skalar-Gravitationstheorie). Im Vergleich zu Einstein ist sie aber ein klein wenig komplizierter…
Mit dieser neuen Formel liessen sich die in Teil 3 beschriebenen Rotationskurven von Galaxien erklären, ohne auf dunkle Materie zurückgreifen zu müssen.
Natürlich lässt sich MOND nicht direkt mit der Korrektur von Newton durch Einstein vergleichen. Einstein war nicht auf der Suche nach einer Korrektur der Newtonschen Formel. Er wollte nur seine 10 Jahre zuvor entwickelte spezielle Relativitätstheorie erweitern, um damit auch Systeme beschreiben zu können, in denen eine Gravitationskraft wirkt. Milgrom dagegen war explizit darauf aus, eine Formel zu finden, die schon existierende Beobachtungen beschreiben kann und hat die Mathematik entsprechend angepasst. Es spricht aber nichts prinzipiell dagegen, die Newtonsche Mechanik zu modifizieren. Den Physikern und Astronomen ist bewusst, dass Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann; denn sie steht im Widerspruch zur Quantenmechanik. Deswegen sucht man ja schon lange nach einer noch umfassenderen Formulieren, die die Allgemeine Relativitätstheorie als Spezialfall enthält, genauso wie sie die Newtonsche Formel als Spezialfall enthalten hat. MOND ist aber keine dieser umfassenden Theorien; mit der Vereinigung von Relativität und Quantenmechanik hat MOND nichts zu tun. MOND ist die Anpassung einer Formel an Beobachtungsdaten. Und was die Rotationskurven von Galaxien angeht, ist diese Korrektur sehr effizient. Aber in anderen Bereichen hat sich MOND als nicht ganz so praktisch herausgestellt.
Zum Beispiel beim Bullet-Cluster. Dabei handelt es sich um einen Galaxienhaufen. Oder eigentlich zwei Galaxienhaufen, die gerade dabei sind, miteinander zu kollidieren. Man kann nun bei dieser Kollision genau verfolgen, wie sich die unterschiedlichen Komponenten so eines Galaxienhaufens verhalten. Da gibt es einmal die Galaxien selbst, die normale, helle Materie. Dann gibt es das dünne, heiße Gas, dass sich zwischen den Galaxien des Haufens befindet. Und dann soll da schließlich noch die dunkle Materie sein, die sich ebenfalls zwischen den Galaxien und um die Haufen herum befindet. Bei einer Kollision ist zu erwarten, dass die Galaxien der beiden Haufen einander einfach durchdringen. Zwischen den Galaxien ist zu viel Platz, als das hier mit tatsächlichen Kollisionen gerechnet werden kann. Die großen intergalaktischen Gaswolken der beiden Galaxienhaufen sollten dagegen aufeinandertreffen und sich gegenseitig bremsen. Das war genau das, was man beobachten konnte. Bei den Galaxien und dem Gas (das wegen seiner hohen Temperatur starke Röntgenstrahlung abgab und mit einem Röntgenteleskop beobachtet werden konnte) war das leicht zu machen. Aber man wollte ja auch noch wissen, was die dunkle Materie macht.
Die konnte man nicht direkt beobachten. Aber man wusste, dass sie zumindest eine Gravitationskraft ausübte. Und das hieß, dass man den Gravitationslinseneffekt ausnutzen konnte. Den haben ich hier genauer erklärt; kurz gesagt geht es darum, dass Masse den Raum krümmt, wie Albert Einstein in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie festgestellt hatte. Lichstrahlen folgen der Krümmung des Raums und massive Objekte können daher wie Linsen aus Glas wirken. Trifft zum Beispiel das Licht einer fernen Galaxien auf seinem Weg eine große Ansammlung von Materie – eine andere Galaxie oder eben eine große Wolke aus dunkler Materie – dann wird es abgelenkt. Das Bild der Galaxien das wir sehen können, erscheint uns verzerrt und aus einer exakten Analyse dieser Verzerrungen kann man berechnen, wo sich die Masse befinden muss, die den Linseneffekt verursacht und wie viel es davon gibt. Die Astronomen haben sich also auch beim Bullet-Cluster auf die Suche nach Gravitationslinsenverzerrungen gemacht und konnten so herausfinden, wo sich dort Masse befindet; egal ob leuchtend oder dunkel.
Das Ergebnis sieht so aus:
Die hellen Dinger sind die Galaxien und wurden mit ganz normalen Teleskopen im ganz normalen Licht fotografiert. Rosa eingefärbt sind die Regionen, in denen sich das Gas befindet, das mit dem Röntgenteleskop gefunden wurde. Und blau sind die Bereiche, in denen man mit dem Gravitationslinseneffekt die Masse gefunden hatte.
Diese Daten zeigen zwei Dinge: Zuerst einmal wieder den alten Befund. Es gibt viel mehr Masse, als man sehen kann. Die Daten der Gravitationslinsenanalyse zeigen, dass die Galaxien nicht ausreichen, um alle Verzerrungen zu erklären – es muss mehr geben. Außerdem zeigen sie aber noch, dass sich diese dunkle Materie offensichtlich nicht wie das Gas verhalten hat. Gas und dunkle Materie wurden bei der Kollision der Galaxienhaufen getrennt. Genau das hatte man erwartet, denn wie ich schon in Teil 4 der Serie erklärt habe, haben die kosmologischen Betrachtungen gezeigt, dass es neben der normalen (baryonischen) Materie auch noch andere geben muss. Und diese andere Materie sollte mit sich selbst nur sehr schwach wechselwirken. Die Schockwellen die bei der Kollision der normalen Gaswolken entstehen und zur deren Abremsung führen, gehen auf die elektromagnetische Wechselwirkung der Gasteilchen zurück und nicht nur auf die Gravitation. Die dunkle Materie kann aber nicht elektromagnetisch wechselwirken, denn Licht ist ja nichts anderes als elektromagnetische Strahlung. Würde die dunkle Materie aber Licht bzw. andere elektromagnetische Strahlung aussenden, absorbieren oder reflektieren, dann wäre sie nicht dunkel. Man ging also davon aus, dass sich die Wolken aus dunkler Materie bei der Kollision der Galaxienhaufen ebenfalls durchdringen mussten, ohne sich dabei abzubremsen. Und das ist genau das was man sieht. Blaue Bereiche, also dunkle Materie, links und rechts und das heiße Gas (in rosa) in der Mitte.
Der Bullet-Cluster war ein ziemlich deutliches Zeichen dafür, dass die dunkle Materie tatsächlich existiert und sich so verhält, wie man es vermutet. In den folgenden Jahren hatte man noch andere Galaxienhaufen entdeckt, die genau das gleiche Verhalten zeigten (z.B. hier oder hier). Aber das ist natürlich kein “Beweis”. Sowas gibt es in der Naturwissenschaft sowieso nicht und es braucht auch mehr, um die Existenz der dunklen Materie zweifelsfrei nachzuweisen.
Den Bullet-Cluster mit MOND alleine zu erklären, ist aber auch recht schwierig. Mordehai Milgrom schreibt dazu selbst:
“Even after correcting with MOND you still need in the cluster some yet undetected matter in roughly the same amount as that of the visible matter.”
Selbst mit MOND wird also immer noch Materie benötigt, die man nicht sehen kann, um die Beobachtungen zu erklären. Das spricht nicht zwingend gegen MOND, im Prinzip kann sowohl dunkle Materie existieren als auch MOND korrekt sein. Aber da MOND ja nur eingeführt wurde, um eine Alternative zur dunklen Materie zu bieten, ist es nicht sonderlich zielführend, wenn man sie nun nur gemeinsam mit dunkler Materie nutzen kann. Dann kann man sie auch gleich weglassen…
Das war es dann auch, was im Laufe der Zeit die allermeisten Astronomen gemacht haben. MOND war eine vernünftige Alternative zur dunklen Materie, die aber immer unpraktischer wurde, je mehr Beobachtungsdaten man bekam. Der Kosmologe Sean Carroll fasste die Situation gut zusammen:
“MOND-like theories don’t replace dark matter so much as they make it much more complicated.”
MOND oder etwas in der Art kann zwar immer noch richtig sein; man kommt aber trotzdem nicht ohne dunkle Materie aus. Und da dunkle Materie ohne MOND genauso gut bzw. schlecht funktioniert wie dunkle Materie mit MOND, aber einfacher ist, ist MOND mittlerweile ziemlich in der Versenkung verschwunden. Es gibt nur noch ein paar Wissenschaftler, die sich ernsthaft damit beschäftigen (siehe z.B. hier).
In der Zwischenzeit hat sich die dunkle Materie nicht nur bei Galaxien und Galaxienhaufen als gute Beschreibung herausgestellt, sondern auch wenn es um die Entstehung des Universums selbst geht. Aber dazu mehr im nächsten Teil.
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