Dieser Artikel ist Teil einer fortlaufenden Besprechung des Buchs “Wenn Gott würfelt: oder Wie der Zufall unser Leben bestimmt” (im Original: “The Drunkard’s Walk: How Randomness Rules Our Lives”) von Leonard Mlodinow. Jeder Artikel dieser Serie beschäftigt sich mit einem anderen Kapitel des Buchs. Eine Übersicht über alle bisher erschienen Artikel findet man hier.
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Im ersten Kapitel des Buchs hat Mlodinow anschaulich dargelegt, wie sehr der Zufall unser Leben bestimmt und vor allem dort, wo wir nicht damit rechnen. Das zweite Kapitel beschäftigt sich nun mit den Regeln, die der Beschäftigung mit Wahrscheinlichkeiten zu Grunde liegen. Es sind Regeln, die unserer Intuition entgegen laufen…
Das ganze Problem mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist, dass wir Probleme haben, sie intuitiv zu verstehen. Unser Gehirn ist nicht für Wahrscheinlichkeiten gemacht, was viele Experimente immer wieder bestätigen. Einige davon stellt Mlodinow in seinem Buch vor. Der schon im letzten Artikel erwähnte Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat eines davon durchgeführt. Er hat sich eine fiktive Biografie einer fiktiven Frau namens Linda ausgedacht: Linda ist 31, Single, intelligent, war politisch aktiv und hat sich gegen Diskriminierung eingesetzt und an Demonstrationen gegen Atomwaffen teilgenommen. Diese Biografie bekamen Testpersonen zu lesen und mussten danach beurteilen, wie wahrscheinlich bestimmte Aussagen über Linda sind. Zum Beispiel
- Linda ist aktive Feministin
- Linda arbeitet in einem Buchladen und nimmt Yoga-Unterricht
- Linda ist aktive Feministin und arbeitet in einer Bank
- Linda ist Grundschullehrerin
- Linda arbeitet in einer Bank
Die Liste oben ist nach den Ergebnissen des Tests sortiert. Die Probanden hielten es für am wahrscheinlichsten, dass Linda Feministin ist (und darauf war die Biografie auch ausgelegt). Sie halten es für unwahrscheinlich, dass sie in einer Bank arbeitet. Seltsamerweise halten die Leute es aber für wahrscheinlicher, dass sie in einer Bank arbeitet UND Feministin ist. Das ist ein Widerspruch denn eines der fundamentalen Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung besagt:
“Die Wahrscheinlichkeit das zwei Ereignisse beide eintreffen kann niemals größer sein als die Wahrscheinlichkeit das jedes davon einzeln eintrifft.”
Es muss wahrscheinlicher sein, dass Linda in einer Bank arbeitet als dass Linda in einer Bank arbeitet UND gleichzeitig Feministin ist. Aber bei Wahrscheinlichkeiten denken wir nicht mathematisch. Wir lassen uns von Geschichten beeinflussen. Je besser die Geschichte, desto wahrscheinlicher erscheint sie uns. Und angesichts der Biografie erscheint es vollkommen plausibel, dass Linda Feministin ist. So plausibel, dass wir jede Aussage die dieses Ereignis enthält, für plausibler halten als Ereignise, die diese Aussage nicht enthalten. Selbst als Kahneman nur die drei Varianten (Feministin, Bank, Feministin und Bank) präsentierten, hielten immer 87 Prozent es für wahrscheinlicher, das Linda Feministin und Bankmitarbeiterin ist als dass sie nur Bankmitarbeiterin ist. Und selbst als man den Probanden die Sache mit den Wahrscheinlichkeiten explizit erklärt hatten, blieben zwei von ihnen bei ihrer Aussage.
Hier ist es nur ein Experiment – im echten Leben kann unser Unverständis der Wahrscheinlichkeit aber konkrete Folge haben. Zum Beispiel im Gerichtssaal: Je ausführlicher eine Geschichte präsentiert wird, desto für wahrscheinlicher halten wir sie.
Jetzt spricht Mlodinow über den “availability bias”. Ich habe nur die englische Ausgabe des Buches gelesen und weiß nicht, wie das auf deutsch übersetzt worden ist. Selektive Wahrnehmung würde wahrscheinlich passen, denn genau darum geht es. Mlodinow fragt die Leser, ob es ihrer Meinung nach mehr (englische) Wörter mit sechs Buchstaben geht, deren fünfter Buchstabe “n” ist oder ob es mehr Wörter mit sechs Buchstaben gibt, die mit “ing” aufhören. Ganz spontan fallen uns (auf jeden Fall den englischsprechenden Leuten) sehr viele Wörter mit “ing” am Ende ein. Aber wer kennt schon spontan Wörter in denen ein “n” an fünfter Stelle steht? Es erscheint uns also wahrscheinlicher, dass es mehr Wörter mit “ing” gibt und wir übersehen, dass in diesem Fall diese Wörter immer nur einer Untergruppe der Wörter mit “n” an fünfter Stelle sind. Von denen muss es also mehr geben.
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