Dieser Artikel ist Teil einer fortlaufenden Besprechung des Buchs “Wenn Gott würfelt: oder Wie der Zufall unser Leben bestimmt” (im Original: “The Drunkard’s Walk: How Randomness Rules Our Lives”) von Leonard Mlodinow. Jeder Artikel dieser Serie beschäftigt sich mit einem anderen Kapitel des Buchs. Eine Übersicht über alle bisher erschienen Artikel findet man hier.
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Im ersten Kapitel des Buchs hat Mlodinow anschaulich dargelegt, wie sehr der Zufall unser Leben bestimmt und vor allem dort, wo wir nicht damit rechnen. Das zweite Kapitel hat sich mit den grundlegenden Regeln der Wahrscheinlichkeit beschäftigt. Im dritten Kapitel präsentiert Mlodinow das fiese Ziegenproblem, das unser Unverständnis der Wahrscheinlichkeit eindrucksvoll präsentiert. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit den Methoden zur Berechnung von Wahrscheinlichkeiten die vor allem Blaise Pascal im 17. Jahrhundert entwickelt hat. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, was Wahrscheinlichkeiten in der realen Welt eigentlich bedeuten. Kapitel 6 erklärt die verwirrende Bayesschen Wahrscheinlichkeiten die für unser Alltagsleben von großer Bedeutung sind. In Kapitel 7 wechselte Mlodinow von der Wahrscheinlichkeitsrechnung zur Statistik und in Kapitel 8 zeigte er, wie man die Statistik nutzen kann, um die Ordnung im Chaos finden kann.
Bei der Suche nach Mustern in komplexen Prozessen gibt es aber ein Problem: Wir finden sie auch dort, wo gar keine sind und mit den daraus erwachsenden kognitiven Verzerrungen beschäftigt sich Kapitel 9 des Buchs. Wir Menschen sind regelrecht dazu konstruiert, überall Muster zu erkennen. Mlodinows Beispiel dafür ist das Auge: Wir schätzen das, was mir “mit eigenen Augen” gesehen haben, sehr hoch ein und selbst vor Gericht zählt die Aussage von Augenzeugen viel. Aber würde man sich ein Video mit den “Rohdaten” ansehen, die unsere Augen produzieren, dann wäre das nicht sehr beeindruckend. Mitten im Bild befände sich ein blinder Fleck an dem nichts zu sehen ist (verursacht durch den optischen Nerv der an dieser Stelle die Retina durchquert. Nur ein sehr eng begrenzert Bereich wäre wirklich scharf; ungefähr vergleichbar mit dem Bereich den unsere auf Armlänge ausgestreckte Daumenspitze überdeckt. Um das auszugleichen bewegen sich die Augen ständig und das Blickfeld springt hin und her. Das “Augenvideo” würde also ein verwackeltes und schlecht aufgelöstes Bild mit einem Loch in der Mitte zeigen. Trotzdem sind wir der Meinung, ein klares und deutliches Bild unserer Umwelt wahrzunehmen und das liegt daran, dass unser Gehirn aus all dem chaotischen Input ein vernünftiges Abbild der Realität extrahiert und simuliert.
Wir sind also darauf angewiesen, Sinn und Ordnung in lückenhaften und chaotisch erscheinenden Daten zu erkennen. Und tun das mit so großer Begeisterung, dass wir Sinn und Ordnung auch dort finden, wo defintiv keine zu finden ist. Zufällige Prozesse bringen uns in Schwierigkeiten, weil wir Zufall nicht akzeptieren und anerkennen wollen. Wenn ich ein Produkt einer bestimmten Firma kaufe und es nicht funktioniert, dann ist das nur ein einzelner Datenpunkt der nicht wirklich etwas darüber aussagt, wie gut die Produkte der Firma wirklich sind. Aber weil es mein Datenpunkt ist, ist er für mich erstmal sehr wichtiger. Wenn ich dann noch von einem Bekannten höre, der ebenfalls Probleme mit dieser Firma hat, dann sind das immer noch nur zwei Datenpunkte und genau so wenig aussagekräftig. Für mich aber ist dass sofort signifikant und ich erkenne sofort ein Muster: Die Firma produziert schlechte Produkte. Und obwohl es sich mit großer Wahrscheinlichkeit nur um statistische Fluktuationen handelt, werde ich meine zukünftigen Entscheidungen an diesem “Muster” orientieren und in Zukunft nicht mehr bei dieser Firma einkaufen. Es ist der klassische kognitive Fehlschluss, der uns persönlich erlebten Einzelereignissen mehr Bedeutung zumessen lässt als sie verdienen. Aber Anekdoten sind eben keine Daten, auch wenn sie einem Muster zu folgen scheinen.
Es gibt einen großen Unterschied zwischen einem Vorgang, der zufällig ist und einem Vorgang, der uns zufällig erscheint. Wir sind intuitiv der Meinung, Zufall dürfe keine Muster enthalten – aber das ist falsch. Der Mathematiker George Spencer Brown hat zum Beispiel einmal ausgerechnet, dass in einer zufälligen Zahlenreihe die aus 101000007 Nullen oder Einsen besteht mindestens 10 Abschnitte zu finden sind, in denen eine Million Nullen direkt aufeinander folgen. Und es braucht keine so gigantischen Reihen. Ich habe zum Beispiel gerade via Wolfram Alpha eine Reihe mit 100 zufällig ausgewählten Nullen und Einsen erzeugt:
0, 1, 1, 0, 0, 1, 1, 1, 1, 0, 0, 0, 0, 0, 1, 1, 1, 0, 0, 0, 1, 0, 0, 0, 0, 0, 0, 1, 1, 0, 1, 1, 1, 1, 0, 0, 0, 1, 0, 0, 1, 1, 0, 0, 0, 1, 1, 1, 1, 0, 1, 1, 1, 1, 1, 0, 1, 0, 0, 0, 0, 1, 1, 1, 0, 0, 1, 1, 0, 1, 0, 1, 0, 1, 0, 0, 0, 0, 1, 1, 1, 1, 1, 1, 0, 1, 1, 0, 1, 0, 0, 0, 1, 1, 0, 0, 1, 0, 0, 1
Und sofort entdecken wir hier jede Menge Muster – zum Beispiel gibt es schon ziemlich am Anfang 5 Nullen die aufeinander folgen und ein wenig später gleich 6 Nullen hintereinander. Weiter hinten folgen 5 Einsen und 6 Einsen. Der Abschnitt “1, 0, 1, 0, 1, 0, 1, 0” ist ebenfalls schön regelmäßig. Würde man so eine Reihe einem Menschen vorlegen und ihn fragen, ob das eine zufällige Reihe ist oder nicht, würde man den Zufall vermutlich nicht erkennen. Solche Experimente wurden schon oft durchgeführt und bis jetzt haben die Menschen dabei immer versagt. Deswegen musste Apple zum Beispiel auch die zufällige Wiedergabe der Lieder auf dem iPod weniger zufällig machen, weil sich die Käufer beschwert hatten, dass es sich nicht zufällig anhörte. Echter Zufall erscheint uns zu regelmäßig – weil wir ständig Muster sehen, wo keine sind.
Das zeigt sich nirgendwo so gut wie bei der Börse. Börsenkurse sind im wesentlichen vom Zufall bestimmt und es ist fast unmöglich zwischen einem Börsenkurs und einer zufälligen Zahlenreihe zu entscheiden. Börsenmakler, Fondmananger, Bänker und all die anderen Wirtschaftsexperten sind also – sofern sie nicht über irgendwelche Insiderinformationen verfügen – nichts anderes als Glücksspieler und es ist absurd, einige von ihnen wegen ihrer tollen Performance als “Börsenexperten” zu bezeichnen. Das ist ein wenig so wie mit den Weinexperten aus Kapitel 7. Mlodinow zitiert jede Menge Studien die zeigen, dass die ganzen Börsenexperten über lange Zeiträume hinweg betrachtet nicht besser sind als der Zufall. Und per Zufall wird es auch immer wieder einzelne Experten geben, die lange Erfolgserien haben. Genauso wie eine Münze (siehe das Beispiel oben mit den Nullen und Einsen) durchaus mal sechsmal hintereinander auf Kopf landen kann, kann ein Fondmanager sechs Jahre hintereinander gewinnen. Das ist sogar zu erwarten, wenn der Börsenmarkt genau so ein Glücksspiel ist wie der Münzwurf. Aber da wir den Zufall nicht verstehen und in zufällige Zahlenreihen Muster interpretieren und ihnen einen Sinn geben, geben wir auch dem zufälligen Gewinner beim Börsenglücksspiel einen großen Bonus für seine beeindruckende “Leistung”.
Mlodinow bringt Bill Miller als Beispiel, der mit seinen Fonds 15 Jahre hintereinander gewann und als einer der besten Manager aller Zeiten galt (oder immer noch gilt; ich kenn mich in der Wirtschaftsszene nicht so aus). Angeblich sei die Wahrscheinlichkeit 1 zu 372529, dass seine Leistung nur auf Zufall beruht. Das nennt man die Hot-hand fallacy, den Fehlschluss, dass eine zufällige Glücks- oder Pechsträhne auf die Fähigkeiten einer Person zurückzuführen ist (wie es im Sport oft passiert). Mlodinow zeigt auch, dass die Wahrscheinlichkeit für Millers “Erfolg” ganz anders berechnet werden muss. Zum einen sind die 15 aufeinanderfolgenden Gewinnjahre eine künstliche Verzerrung die von der Interpretation der Daten herrührt. Man kann in den Daten insgesamt mehr als 30 12-Monats-Perioden finden, in denen Miller verloren hat. Aber später betrachtet wurden nur die 15 Perioden zwischen 1. Januar und 31. Dezember. Außerdem darf man nicht verwechseln, um welche Wahrscheinlichkeit es eigentlich geht. Will man wissen, wie wahrscheinlich es ist, dass speziell Bill Miller exakt im Zeitraum zwischen 1991 und 2006 immer zufällig gewinnt, dann sind die Chancen dafür wirklich sehr gering. Das entspricht der Wahrscheinlichkeit, dass ich 15 Mal hintereinander “Kopf” erhalte, wenn ich in den nächsten 15 Jahren jedes Jahr eine Münze werfe.
Aber es gibt sehr viel mehr Manager und Börsenheinis als Bill Miller; und es gibt sehr viel mehr Intervalle als das zwischen 1991 und 2006. Man muss eher fragen: Wenn tausende Leute jedes Jahr eine Münze werfen und das mehrer Jahrzehnte lang tun, wie wahrscheinlich ist es, dass eine Person irgendwann einmal 15 Mal hintereinander “Kopf” wirft? Die Wahrscheinlichkeit ist viel größer und im Fall von Miller liegt sie bei 75% (berechnet für einen Zeitraum von 40 Jahren). Es wäre also eher unwahrscheinlich, dass im Laufe von ein paar Jahrzehnten nicht irgendwo ein Manager auftaucht, der 15 Jahre lang hintereinander Glück hat. Aber das erscheint uns intuitiv unwahrscheinlich und wenn wir von Fällen wie Miller hören neigen wir deshalb dazu, die zufällige Glückssträhne seiner “Leistung” zuzuschreiben.
Wir wollen eben nicht die Kontrolle verlieren. Wir fühlen uns besser, wenn wir ein Muster hinter den Dingen zu erkennen glauben und auch das zeigen jede Menge Experimente. Eines dieser Experimente (durchgeführt von Ellen Langer) bestand aus einer Lotterie: Jeder Teilnehmer bekam eine Karte mit dem Bild eines Sportlers. Ein Beutel enthielt eine Mischung aus allen Bildern die im Spiel waren und eines davon wurde gezogen. Wer das gleiche Bild besaß, hatte gewonnen. Die Hälfte der Teilnehmer bekam einfach ein Bild zugeteilt, die andere Hälfte durfte es sich selbst aussuchen. Danach durften alle Teilnehmer ihr Bilder verkaufen, wenn sie wollten. Und obwohl es natürlich egal war, ob man ein selbst gewähltes oder zufälliges Bild hat, wollten diejenigen die es selbst ausgesucht hatten, viel mehr Geld dafür haben als die anderen, denen es ziemlich egal war. Die Leute wussten zwar alle, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Gewinn nicht davon abhing, ob man sich die Karte vorher selbst ausgesucht hatte. Aber sie verhielten sich genau so, als hätte es einen Einfluss.
Es gibt noch jede Menge andere kognitive Verzerrungen, die unser Verhalten auf diese Weise beeinflussen und uns Muster sehen lassen, wo keine sind. Der Bestätigungsfehler (Confirmation Bias) lässt uns Informationen immer dann als relevant ansehen, wenn sie ein Muster bestätigen, dass wir uns schon vorher gebildet haben. Ein Beispiel: Welche Regel liegt dieser Zahlenreihe zugrunde und wie könnte sie weitergehen: 2,4,6, ? Klar, werden jetzt die meisten sagen, jetzt kommt 8, 10, 12 und so weiter. Wir erkennen ein Muster und akzeptieren es sofort. Und dann fällt es uns schwer, davon wieder abzulassen. Auch das wurde in einem Experiment überprüft. Selbst wenn die Versuchspersonen Vermutungen über die nachfolgenden Zahlen abgeben dürfen und der Versuchsleiter ihnen sagt ob sie richtig sind oder nicht, probieren die meisten immer nur, ihre Vermutung zu bestätigen, aber nie, sie zu widerlegen. Die wenigen, die das machen und nicht dem confirmation bias unterliegen fragen dann zum Beispiel, ob die Reihe mit 7,8,9 fortgesetzt werden kann oder mit 101,102,103 und finden so heraus, dass es einfach nur darum geht, immer größere Zahlen zu bilden und nicht, alle geraden Zahlen aufzulisten. Wer nur Bestätigung für die Vermutung sucht fragt nur nach “8,10,12” und übersieht so das wesentliche…
Dem Bestätigungsfehler verdanken wir auch die vielen Vorurteile die über bestimmte Menschengruppen in Umlauf sind und er ist für jede Menge irrationalen Unsinns und sinnloser Diskussionen verantwortlich. Da jeder sich immer nur die Argumente aus vorhanden Daten raussucht, die die eigenen Denkmuster unterstützen und den Rest ignoriert, kann der gleiche Datensatz von Menschen mit verschiedener Weltsicht völlig unterschiedlich interpretiert werden. Und leider ist niemand sicher vor all diesen kognitiven Verzerrungen; selbst wenn wir denken, wir wären klüger als der Rest der Welt (was wir insgeheim natürlich alle denken und auch nur eine kognitive Verzerrung ist). Wollen wir etwas dagegen tun, dann müssen wir uns ständig daran erinnern, dass auch der Zufall Muster produziert und nicht überall Sinn und Ordnung zu finden ist, wo wir sie sehen…
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