Ich habe in diesem Sommer schon viele Bücher empfohlen (hier und hier). Kürzlich habe ich auch behauptet, meine absoluten Favoriten für dieses Jahr entdeckt zu haben. Aber wie das eben so ist, findet man die echten Favoriten erst dann, wenn man denkt, man hätte sie schon gefunden. Das Buch, dass ich euch heute vorstellen will, habe ich zufällig in den Fußnoten eines anderen Buchs entdeckt, es sicherheitshalber zur Erinnerung auf meine Amazon-Wunschliste gesetzt und war dann überrascht und erfreut, als es kurze Zeit später bei mir im Briefkasten auftaucht (Vielen Dank, Benedikt!). Noch erfreuter war ich aber, als ich begann, es zu lesen. Es ist quasi das perfekte Buch für alle Leute, die sich für Bücher und Astronomie interessieren. Denn das Buch handelt vom Verfassen eines Buches, das sich mit einem Buch beschäftigt: einem der berühmtesten astronomischen Bücher aller Zeiten. Es ist ein Buch über Bücher, über Bibliotheken, über den Umgang mit Büchern und ihre Herstellung. Und es ist ein Buch über die Geburt der modernen Astronomie.
Das Buch das ich gelesen habe und das ich euch allen empfehlen möchte, heißt “The Book Nobody Read: Chasing the Revolutions of Nicolaus Copernicus”* und stammt vom Astronom und Wissenschaftshistoriker Owen Gingerich. Gingerich beschäftigt sich beruflich sehr oft mit alten astronomischen Büchern und natürlich gehört da auch “De revolutionibus orbium coelestium” von Nikolaus Kopernikus dazu. Das revolutionäre Werk wurde 1543 das erste Mal gedruckt und stellt mit seiner Darstellung der heliozentrischen Weltsicht einen Meilenstein in der Wissenschaftsgeschichte dar. Die Bedeutung des Buches war auch schon im 16. Jahrhundert offensichtlich; der Inhalt ist aber auf für Experten schwer zugänglich. Kopernikus hat darin ja nicht einfach nur “Die Erde dreht sich um die Sonne und nicht umgekehrt!” aufgeschrieben, sondern auch ausführlich die Grundlagen der sphärischen Astronomie und der dafür nötigen mathematischen Techniken dargelegt (siehe hier für eine deutsche Online-Version).
Arthur Koestler hat über Kopernikus’ Werk behauptet, es wäre “Das Buch das niemand gelesen hat” und Gingerich war sich nicht sicher, ob das tatsächlich zutrifft. In einer jahrzehntelangen Suche hat er sich daher der Aufgabe gestellt, alle heute noch existierenden Exemplare der ersten und zweiten Auflage von “De revolutionibus” zu finden und zu untersuchen. Er wollte herausfinden, wer sie ursprünglich erworben hat, wer sie in der Zwischenzeit gelesen hat und vor allem, welche Anmerkungen von den Forschern im Laufe der Zeit gemacht worden sind. Die bibliothekarische Detektivarbeit von Gingerich begann in den 1970er Jahren (1973 wurde der 500. Geburtstag von Kopernikus gefeiert) und endete 2002 mit der Publikation der wissenschaftshistorischen Facharbeit “An annotated census of Copernicus’ De revolutionibus (Nuremberg, 1543 and Basel, 1566)”, die Kopernikus’ Buch zur bestuntersuchten Erstausgabe (mit Ausnahme der Gutenbergbibel) aller Zeiten macht.
“The book nobody read” ist auf vielen Ebenen enorm interessant. Man erfährt zum Beispiel sehr viel über die Art und Weise, wie im 16. Jahrhundert Bücher geschrieben, verlegt und gedruckt worden sind. Wie sie vertrieben, gekauft und gelagert wurden. Man lernt aber auch die Szene der Liebhaber historischer Bücher kennen und die Händler und Auktionshäuser in denen die alten Werke heute verkauft werden. Gingerich war während seiner Arbeit auch immer wieder mit Kriminalität und Buchdieben konfrontiert und wurde mehrmals als Berater von FBI und anderen Einrichtungen eingesetzt, die versuchten, die Herkunft alter Bücher aufzudecken. Gingerich musste vor Gericht aussagen, konnte durch seine Detektivarbeit in Bibliotheken und Archiven einige Diebstähle überhaupt erst aufdecken und andere verhindern.
“The book nobody read” ist auch ein interessantes historisches Dokument, das die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Ost und West im kalten Krieg beschreibt. Aus persönlichen Gründen hatte Gingerich eine enge Beziehung zu Polen und war daher intensiv bei den dort stattfindenden Feierlichkeiten zum 500. Geburtstag von Kopernikus involviert. Seine Suche nach Erst- und Zweitausgaben von “De revolutionibus” hat ihn aber auch in viele andere Länder hinter dem eisernen Vorhang gebracht. Internet-Kataloge, digitale Fotos, Emails und all das, was uns heute die Recherche so einfach macht, dass wir den eigenen Schreibtisch kaum noch verlassen müssen, gab es damals ja noch nicht. Und viele Entdeckungen konnte Gingerich sowieso nur machen, weil er fast alle Bücher selbst aus nächster Nähe untersucht hat.
Denn “The book nobody read” handelt natürlich auch von Astronomie. Der Inhalt von Kopernikus’ Werk war Gingerich selbstverständlich bekannt; nur dafür hätte er nicht jedes einzelne Exemplar lesen müssen. Er war daran interessiert, was andere von der Lektüre gehalten haben. Viele Forscher im 16. und 17. Jahrhundert haben ihre Ausgabe von “De revolutionibus” mit ausführlichen Anmerkungen versehen und die wollte Gingerich dokumentieren und verstehen. Und auch das sind enorm spannende wissenschaftliche Detektivgeschichten. Da müssen Handschriften entschlüsselt und zugeordnet werden. Manche Bücher enthalten Anmerkungen verschiedener Leute; manche Bücher enthalten Anmerkungen die aus früheren Ausgaben kopiert wurden, und so weiter.
Gingerich konnte viele “prominente” Exemplare entdecken, zum Beispiel die Bücher, die Tycho Brahe besessen hat. Ein besonders spannender Teil von “The book nobody read” beschäftigt sich mit der Entwicklung des tychonischen Weltbilds, das einen Kompromiss zwischen Geozentrismus und Heliozentrismus darstellt. Tycho Brahe beließ darin die Erde im Mittelpunkt des Universums, die von Mond und Sonne umkreist wurde. Die restlichen Planeten aber umkreisten die Sonne. In verschiedenen Anmerkungen verschiedener Forscher die Gingerich in “De revolutionibus” gefunden hat, probierte er den Ursprung und die Entwicklung dieses Konzepts nachzuvollziehen und fand dabei die gleichen wissenschaftlichen Rivalitäten, die auch heute noch überall vorhanden sind. Es ist auch interessant, die von der katholischen Kirche angeordneten Zensuren des Buchs zu untersuchen und nachzusehen, wo sie tatsächlich umgesetzt worden sind und wo nicht.
Gingerich verfolgt, wie sich Kopernikus’ Thesen langsam durch die frühe wissenschaftliche Welt verbreiten und hat untersucht, wer in welchem Ausmaß dazu beigetragen hat, dass sich die Idee schließlich durchsetzte. Eine sehr wichtige Rolle spielt dabei zum Beispiel Erasmus Reinhold, von dem ich bisher noch nie gehört hatte, obwohl er aus Saalfeld stammt, das ja gleich neben meiner Heimatstadt Jena liegt. Auch sonst lernt man in Gingerichs Buch jede Menge andere “unbekannte” Forscher kennen, die trotzdem wichtige und höchst interessante Arbeit gemacht haben. Und man lernt vor allem Kopernikus kennen. Die meisten werden wissen, dass Kopernikus ein Weltbild vorschlug, in dem sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt. Aber das war natürlich bei weitem noch nicht alles. Die meisten werden vermutlich nicht wissen, dass Kopernikus’ Weltbild rein wissenschaftlich nicht wesentlich besser war als das alte, geozentrische von Ptolemäus. Auch mit Kopernikus’ Ansatz ließen sich die Positionen der Planeten nicht wesentlich genauer vorhersagen und auch er musste in seinem Modell diverse Modifikationen anbringen, so wie es Ptolemäus mit seinen Epizyklen tat (und Gingerich demontiert gleich auch noch den Mythos, dass man im Mittelalter “Epizykel an Epizykel” reihte, um das geozentrische Weltbild noch irgendwie “zu retten”). Denn Kopernikus war in gewisser Hinsicht genau so konservativ wie seine Vorgänger und wollte sich nicht von der Vorstellung lösen, dass am Himmel alles in Kreisform abzulaufen hat. Diesen Schritt hat dann erst Johannes Kepler geschafft…
“The book nobody read” ist ein wirklich großartiges Buch, für Freunde der Wissenschaftsgeschichte ebenso wie für Menschen, die einfach nur Bücher sehr gerne haben. Mich hat es wieder einmal daran erinnert, dass ich ja doch eigentlich gerne Wissenschaftshistoriker geworden wäre (aber gut, in diesem Bereich hat man wahrscheinlich noch schlechtere Berufsaussichten als in der Astronomie). Und ich habe mich darüber geärgert, dass ich es in meiner gesamten Zeit an der Unisternwarte Wien nie geschafft habe, mal einen Blick auf die Erstausgabe von “De revolutionibus” zu werfen, die dort in der Bibliothek aufbewahrt wird…
P.S. Und bleibt dran; heute Nachmittag gibt es dann die Buchempfehlung zur zweiten Überraschungsentdeckung – diesmal zu einem ganz anderen Thema.
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