“Wir wissen mehr über das Weltall als über die Tiefsee.” Ein Satz, der immer wieder geäußert wird. Leider oft, um Astronomie zu kritisieren oder die bei der Raumfahrt anfallenden Kosten. Aber wenn man diesen Satz am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung zu hören bekommt, dann ist er genau so gemeint: Die Tiefsee zu erforschen ist verdammt schwierig. Die Oberflächen von Mond oder Mars sind wesentlich besser bekannt als der Meeresboden. Dabei versteckt sich unter der unscheinbaren Wasseroberfläche eine komplette Welt. Da unten ist nicht einfach nur platter Boden. Es gibt Gebirge, Täler, Wüsten: Die Tiefsee ist voll mit verschiedenen Landschaften und Ökosystemen – und bis heute ist es den Wissenschaftlern nur bedingt gelungen, sie alle zu untersuchen.
“Tiefseeforschung ist teuer”, erklärt Dr. Thomas Soltwedel – wenn auch nicht so teuer wie die Raumfahrt. Aber der Meeresboden ist, zumindest für technische Geräte, eine ebenso feindliche Umgebung wie das Weltall. Niedrige Temperaturen und hoher Druck machen die Konstruktion von Messgeräten zu einer Herausforderung. Das viel größere Problem ist aber die Unzulänglichkeit: Den Mond zum Beispiel kann man von der Erde aus problemlos mit dem Teleskop kartografieren (zumindest die Seite, die er uns zuwendet). Es gibt aber keine “Teleskope” mit denen sich die gesamte Tiefsee erfassen lässt. Die Erdbeobachtungssatelliten, die theoretisch unseren gesamten Planeten im Blick haben, können den Meeresboden nicht sehen. Die Forschungsschiffe der Wissenschaftler ebenso wenig. Und wenn man auch mit speziellen Tauchbooten einige tausend Meter tief unter die Wasseroberfläche vordringen kann, so ist das global gesehen kaum der Rede Wert. Auf diese Art die gesamte Tiefsee untersuchen zu wollen ähnelt dem Versuch, einen Kontinent zu Fuß zu kartografieren.
Das ist auch der Grund, warum es über das Verhalten der Tiefsee kaum Langzeitendaten gibt. Es ist schon schwierig genug, einen einzigen Punkt des Meeresbodens zu erreichen. Das immer und immer wieder zu tun um lange Datenreihen zu erstellen, ist kompliziert und teuer. Das Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven hat es trotzdem geschafft, in der Framstraße zwischen Spitzbergen und Grönland 15 Jahre lange Daten zu sammeln. Dort befindet sich der “Hausgarten” und dort wachsen keine Blumen, sondern Messgeräte. Zwischen 1000 und 5500 Meter Wassertiefe wurde seit 1999 ein Netzwerk aus 17 Stationen angelegt, die konstant physikalische, chemische und biologische Daten sammeln.
An langen Verankerungsketten hängen ganze Batterien von Geräten in unterschiedlichen Höhen die Wassertemperatur, Strömungsgeschwindigkeit und diverse andere Parameter messen. Es gibt Sinkstofffallen – im Prinzip spezielle Trichter, in denen alles eingesammelt wird, was von oben nach unten sinkt – mit denen sich das Auftreten des Plankton und andere Lebewesen untersuchen lässt. Sogenannte “Freifallgeräte” sitzen direkt am Meeresboden und führen dort Experimente und Messungen durch bevor sie automatisiert wieder nach oben steigen. Da wird dann zum Beispiel der Untergrund künstlich aufgewirbelt und durchpflügt um herauszufinden, wie sich das auf die dortigen Lebewesen auswirkt oder ein Strömungskanal erhöht die lokale Meeresströmung um die Auswirkung auf die Fauna zu untersuchen. Chemische Analysen bestimmen die Sauerstoffkonzentration oder untersuchen die “Remineralisierung”, also die Verwertung der absinkenden Lebewesen durch die Organismen am Meeresboden. Und natürlich werden Bilder gemacht.
Die langen Datenreihen des Hausgarten-Projekts haben schon einige interessante Erkenntnisse geliefert. “Die Veränderungen an der Wasseroberfläche spiegeln sich unmittelbar am Meeresboden wieder”, beschreibt Soltwedel eines der für die Forscher überraschenden Ergebnisse. Dass die Vorgänge an der Oberfläche einen Einfluss auf den Boden haben, war natürlich vorher schon klar. Aber die Geschwindigkeit mit der sich die Effekte ausbreiten, hat die Wissenschaftler überrascht. Die Tiefsee ist kein abgekoppeltes Ökosystem, sondern wird von den Klimaveränderungen genau so beeinflusst wie der Rest der Welt.
Die Wassertemperaturen steigen kontinuierlich und das auch in der Tiefsee: Das zeigen die Langzeitdaten des Hausgartens und die Erwärmung beeinflusst das Ökosystem. Man hat in den letzten Jahren völlig andere Planktonblüten beobachtet oder auch aus dem südlicheren Atlantik eingewanderte Flohkrebsarten, die nun auch in der Framstrasse heimisch sind und sich dort fortpflanzen können.
Aber auch trotz des einzigartigen Hausgartens ist die Erforschung der Tiefsee ein mühsames Geschäft. Im Gegensatz zur Astronomie kann man nicht einfach “nur” ein paar Bilder machen und sie mit Computeralgorithmen auswerten (was allerdings auch nicht unbedingt trivial ist und durchaus sehr viel Zeit kosten kann). Die Plankton-Proben aus dem Ozean können nur einmal im Jahr eingesammelt werden, nämlich dann, wenn das Forschungsschiff “Polarstern” den Hausgarten anfährt. Und dann bleibt nichts anderes übrig als alles händisch unter dem Mikroskop zu sortieren und zu analysieren.
Eines der Hauptprobleme bei der Erforschung der Tiefsee ist die Energieversorgung. Man könnte sich ja zum Beispiel eine Art “Unterwasser-Rover” vorstellen, der – analog zu den Marsrover – unter der Meeresoberfläche herumfährt und selbstständig Analysen durchführt. Oder Unterseeboote, die automatisch die Tiefsee kartieren und hochauflösende Bilder des Meeresbodens erstellen, so wie das die Satelliten tun, die wir zu anderen Planeten schicken. Rein technisch könnte man solche Geräte zwar sicher bauen. Aber woher sollen sie ihre Energie bekommen? Satelliten und Raumsonden können Sonnenenergie verwenden, aber in der Tiefsee ist es dunkel. Das heißt, man muss die gesamte Energie, die man unten benötigt, von oben mitbringen. Will man ein Jahr oder länger autark unter Wasser agieren, braucht man entsprechende Batterien und die wären in diesem Fall zu teuer und vor allem viel zu sperrig. Im Weltraum benutzt man in solchen Fällen Radionuklidbatterien, aber der Einsatz von Forschungssonden mit radioaktiven Antrieben in den Ozeanen dieser Welt würde wohl – aus verschiedenen guten Gründen – auf großen Widerstand stoßen.
Man könnte lange Kabel in der Tiefsee verlegen, an denen “Unterwasserrover” entlang fahren, sich Energie holen und darüber Daten zurück nach oben schicken. Aber das kostet Geld und ist sehr aufwändig…
Die Tiefsee wird ihre Geheimnisse nicht so schnell frei geben. Die Forscher werden vorerst weiterhin auf die punktuellen Daten angewiesen sein, die von den Forschungsschiffen gesammelt werden können. Für die Polarforschung des AWI ist das noch einmal extra kompliziert, denn nur im Sommer ist die Framstraße eisfrei (zumindest derzeit noch). “Kein Mensch weiß: Was macht der Meeresboden dort im Winter?”, sagt Thomas Soltwedel abschließend. Wir werden es noch länger nicht wissen. 230 Millionen Euro haben die AWI-Forscher für ein unterseeisches Energiekabel veranschlagt, dass eine dauerhafte und intensive Erforschung der für sie interessanten Polarregionen ermöglichen würde. Wenig Geld, verglichen mit anderen wissenschaftlichen Großprojekten (und quasi gar kein Geld, verglichen mit anderen – zum Beispiel militärischen – Ausgaben). Aber viel Geld, wenn man es als Forscher irgendwo auftreiben muss…
Wir kennen die Tiefsee tatsächlich viel schlechter als die Oberfläche von Mond oder Mars. Und die Astronomen haben keine Schuld daran…
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