Wäre aber die starke Wechselwirkung nur um wenige Prozent schwächer, wäre
Wasserstoff das einzige Element im Universum (MCGRATH 2001, 217). Schwerere
Elemente wären instabil, Sterne (typische Fusionsreaktoren) hätten sich nie ge-
bildet. Wäre dagegen die elektromagnetische Kraft nur ein klein wenig stärker,
wäre der gesamte Wasserstoff im Universum innerhalb weniger Jahre in Helium
umgewandelt worden – langlebige Sterne wie die Sonne könnten nicht existieren.
In den meisten Fällen also würden Schwankungen der Halbwertszeiten
um bereits wenige Prozent zu einem instabilen, lebensfeindlichen Kos-
mos führen; analoge Überlegungen lassen sich auch für andere Formen des ra-
dioaktiven Zerfalls wie den „Beta-Zerfall“ anstellen.
Gemessen an elementaren Zusammenhängen der Physik gibt es also keinen
Spielraum für eine deutliche Veränderung der Halbwertszeiten radioaktiver Nuk-
lide. Eine „isolierte“ Erhöhung oder Erniedrigung der Zerfallskonstanten ist kaum
möglich, ohne das filigrane Netz der Naturgesetze und -Konstanten in fataler
Weise aus der Balance zu bringen. Es gibt nur eine Zerfallsart, auf die das nicht
zutrifft, nämlich den Zerfall über Elektroneneinfang (electron capture).
Eine Ausnahme: Der Mechanismus des electron capture
Beim Elektroneneinfang wird ein Elektron aus der Atomhülle vom Atomkern auf-
genommen, sodass sich ein Proton in ein Neutron und ein Neutrino verwandelt.
Diese Halbwertszeit kann sich dramatisch ändern, wenn Elektronen aus der Hülle
entfernt werden. Man denke an das extreme Beispiel, dass alle Elektronen aus
der Hülle entfernt wurden. In diesem Fall liegt ein „nackter“ Atomkern vor. Die-
ser kann nicht mehr über Elektroneneinfang zerfallen, da kein Hüllenelektron
mehr vorliegt. Die Halbwertszeit wird unendlich und der Kern stabil. Dieses Phä-
nomen wurde experimentell an der GSI 1996 in einem Speicherringexperiment
beobachtet (vgl. BOSCH et al.1996). Diese Zerfallsart ermöglicht sogar eine von
anderen radiometrischen Datierungsmethoden unabhängige Altersbestimmung
des Universums; eine Vertiefung dieses Themas würde allerdings den Rahmen
unserer Betrachtungen sprengen.
Wenn Ozeane verdampfen
Aber nehmen wir spaßeshalber einmal an, dass die Halbwertszeiten radioaktiver
Nuklide früher um mehrere Größenordnungen niedriger lagen als heute. Welche
Auswirkungen hätte dies auf die Erde gehabt? Man kann sich leicht ausrechnen,
um welchen Faktor die bei radioaktiven Zerfällen freiwerdende Energie (Bin-
dungsenergie der Nukleonen) höher sein müsste, um die Ergebnisse der Zeit-
messung beispielsweise mit den Behauptungen der Kreationisten zu harmonisie-
ren, die Erde sei erst ein paar Tausend Jahre alt: Da sich das Erdalter auf rund
4,56 Milliarden Jahre datieren lässt, wäre eine Verkürzung der Halbwertszeit um
rund sechs Zehnerpotenzen (Faktor eine Million) erforderlich. Auch die Zerfalls-
leistung (Energie pro Zeit) würde um diesen riesigen Faktor anwachsen.
Knapp die Hälfte der Erdwärme stammt heute aus dem Zerfall radioaktiver Ele-
mente. Die Leistung, die aus dem radioaktiven Zerfall resultiert, beträgt rund
2·1013 Watt, also 20 Terawatt (GANDO et al. 2011). Einen Erdradius von 6.370 km
zugrunde gelegt, liegt die geothermische Leistungsdichte des radioaktiven Zer-
falls bei etwa 0,040 Watt (40 mW) pro Quadratmeter Erdoberfläche. Eine um
sechs Größenordnungen höhere Zerfallsleistung entspräche demnach einer Wär-
meleistung von 40.000 W (40 kW) pro Quadratmeter Erdoberfläche.
Wenn man sich vergegenwärtigt, dass dieser Wert ziemlich genau der Leistungs-
dichte einer modernen Ceranfeld- oder Herdplatte entspricht, kann man sich
leicht ausmalen, was passieren würde: Die Ozeane würden innerhalb kürzester
Zeit zu kochen beginnen und verdampfen. Anschließend würde sich die Erde all-
mählich bis zur Weißglut erhitzen und lange davor jede Lebensform vernichtet
haben. Jeden Wassers beraubt, das die enorme Hitze aus dem Erdinneren auf-
nehmen könnte, würde die Erde schließlich selbst verdampfen (ROGNSTAD 2005).
Kurzum: Der Versuch, radiometrische Datierungen durch willkürliche An-
nahmen auf ein „biblisches Alter“ herunter zu korrigieren, liegt wissen-
schaftlich gesehen nicht annähernd im Bereich des Möglichen – zumin-
dest, solange die Gesetze der Physik Gültigkeit haben.
Mitte des 20. Jahrhunderts gab es ähnliche Überlegungen seitens des Physikers
und Nobelpreisträgers Paul DIRAC. Er opferte die Konstanz elementarer Naturge-
setze, etwa der Gravitationskonstante. Seine Hypothese hatte nicht lange Be-
stand, denn Berechnungen zeigten ebenfalls, dass unter seinen Annahmen die
Ozeane hätten verkochen müssen (BARROW 2011, 106). Unter der Titelzeile
„DIRAC lässt Ozeane kochen“ spitzten diverse Medien das Problem polemisch zu.
Danach wurde die Idee verworfen. Sie erinnert an das Bestreben des Kreationis-
mus, an Zerfallskonstanten beliebig herum zu manipulieren, bis die Geologie „zur
Bibel passt“. „Kreationisten bringen die Meere zum Kochen“ wäre auch hier der
passende Slogan.
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