Bei der Diskussion um Religion muss man darauf aufpassen, sich nicht in unzulässigen Verallgemeinerungen zu verlieren. “Die Kirche” und “die Religion” gibt es nicht. Genauso wenig wie es “den Islam” gibt, was die Menschen und Medien aber nicht daran hindert, überall davon zu reden, was “der Islam” macht und welche Gefahren “vom Islam” ausgehen. Wie wenig zielführend solche Aussagen sind, merkt man, wenn man “Islam” durch eine Glaubensrichtung ersetzt, über die man hierzulande im Allgemeinen besser Bescheid weiß. Zu sagen “Die Christen sind gefährlich” ist offensichtlicher Unsinn, denn wir wissen, dass es eine Vielzahl an christlichen Religionen und Gruppierungen gibt. Manche davon sind harmlos, kümmern sich nur um sich selbst ohne den Rest der Welt dabei auf die Nerven zu gehen. Andere drängen nach Macht und gesellschaftlichen Einfluss. Und manche sind tatsächlich gefährlich! Dazu zählen die Gruppen, die man meist als “Sekten” bezeichnet und die bekannteste christliche Sekte sind vermutlich die Zeugen Jehovas. Jeder wird vermutlich schon mal Besuch von ihren Missionaren bekommen haben und die große Mehrheit wird die Zeugen schnell wieder abgewimmelt haben. Man weiß, dass die Zeugen Jehovas etwas gegen Spenderblut haben, dass sie die Evolution ablehnen, in der Fußgängerzone den Wachtturm verkaufen und vielleicht auch noch, dass sie irgendwie an den baldigen Weltuntergang glauben. Aber das war es dann auch schon…
Was wirklich bei den Zeugen Jehovas abläuft, erfährt man nur, wenn man Teil ihrer Gemeinschaft wird. Wer aber darauf keine Lust hat, der kann nun das neue Buch von Misha Anouk lesen. Er weiß über das Innenleben der Sekte bestens Bescheid, den er war von Geburt an Mitglied und blieb es bis zu seinem 20. Lebensjahr. Über seine Erfahrungen bei den Zeugen Jehovas und die Erlebnisse nach dem Ausstieg hat er in “Goodbye, Jehova!: Wie ich die bekannteste Sekte der Welt verließ”* berichtet.
Das Buch ist einerseits ein sehr persönlicher Bericht über Misha Anouks Leben. Er erzählt von seiner Familie, in der schon die Großeltern hochrangige Positionen bei den Zeugen Jehovas innehatten und wie er ganz selbstverständlich mit dem Glauben an die Lehre der Sekte aufgewachsen ist. Er erzählt von seiner Kindheit, die sich stellenweise nicht von der eines “normalen” Kinds unterschied, in anderen Bereichen aber völlig unterschiedlich war. Misha Anouk beschreibt sein Unbehagen angesichts des “Predigtdienstes” (wie das Missionieren an der Haustür genannt wird) und die Probleme, die ihm bestimmte Regeln bei seinen Altersgenossen verschafft haben (Ist “Star Wars” böse magische Fantasy, die man als Zeuge nicht sehen darf?). Am erschütterndsten fand ich persönlich die Berichte über den subtilen Psychoterror, der von der Gemeinschaft auf den Einzelnen ausgeübt wird. Zum Beispiel die ständige Angst vor dem nahenden “Harmageddon”, also dem Weltuntergang, die von der Sekte propagiert wird. Mittlerweile hat die Führung der Zeugen zwar darauf verzichtet, ein konkretes Datum zu nennen, aber es wird immer angedeutet, dass es nicht mehr lange dauern kann. Und wer dann kein Zeuge ist, hat keine Chance zu überleben. Und um sich diese Überlebensmöglichkeit zu erhalten, darf man keine Fehler machen. Gott sieht alles – und die “Wachtturm-Gesellschaft”, also die Sektenführung, ebenfalls.
Misha Anouk beschreibt eindrücklich das ständige schlechte Gewissen, die “falsche” Musik gehört oder die “falschen” Filme gesehen zu haben; die “falschen” Gedanken gehabt zu haben. Er erzählt von seiner Beziehung zu einem “normalen” Mädchen, die unter dem Druck dieser Angst beendet wurde und von der Beinahehochzeit mit einer Zeugin (hauptsächlich aus dem Grund, endlich offiziell Sex haben zu dürfen).
Dieser sehr persönliche Blick auf das Leben in der Sekte ist nicht nur teilweise enorm bedrückend sondern auch sehr informativ. Man kann sich zwar immer noch nicht vorstellen, wie es sein muss, von Geburt an Teil so einer Gemeinschaft zu sein. Aber man versteht die Zeugen Jehovas danach wesentlich besser als zuvor. Neben dieser privaten Geschichten erzählt Misha Anouk aber die Geschichte der Sekte selbst. Unterlegt mit sehr vielen ausführlichen Zitaten aus Publikationen der Zeugen Jehovas legt er ihre religiöse Lehre dar; erklärt wie die Wachtturm-Gesellschaft zu der mächtigen Kontrollinstanz werden konnte, die sie heute ist und erläutert auch all die Widersprüche dieser Religion und die teilweise sehr schmutzigen Vorgänge hinter den Kulissen.
Den Abschluss des Buches bildet der Ausstieg aus der Sekte. Es war kein spektakuläres einzelnes Ereignis, das Misha Anouk dazu gebracht hat, die Zeugen Jehovas zu verlassen. Die Zweifel an der “Wahrheit” der Lehre wuchsen langsam, bis sie irgendwann zu viel waren. Das Buch beschreibt im Detail, wie ein Ausstieg aus der Sekte abläuft und vor allem, was danach passiert: Die komplette Isolation von Freunden, Bekannten und Familienmitglieder. Misha Anouk erzählt, wie lange er am Ende gebraucht hat, um den Absprung zu schaffen und vor allem auch psychisch zu verkraften…
Ich kann euch das Buch nur empfehlen. Wer mehr über die “Körperschaft öffentlichen Rechts” (der offizielle Status der Zeugen Jehovas in 13 Bundesländern Deutschlands) oder der “staatlich eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinschaft” (so der offizielle Status der Zeugen Jehovas in Österreich) erfahren will, findet in diesem Buch ausreichend Informationen. Es ist kein religionswissenschaftliches Werk und auch kein Lexikon – aber dafür ein sehr gut und vor allem spannend zu lesendes Buch, dass durch die persönliche Geschichte von Misha Anouk den Fakten eine ganz besondere Dringlichkeit verleiht. Für meinen Geschmack sind ein kleines bisschen zu viel Zitate aus den Publikationen der Wachtturm-Gesellschaft inkludiert (dieses wirre Zeug kann man irgendwann einfach nicht mehr verarbeiten) und auch die vielen popkulturellen Anspielungen werden vielleicht nicht von allen immer verstanden. Aber abgesehen von diesen Kleinigkeiten ist es ein sehr lesenswertes Buch für alle, die sich dafür interessieren, was bei den Zeugen Jehovas passiert, wenn sie unter sich sind.
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