Ich hab erst kürzlich über den Versuch, Neutrinos aus extrasolaren Quellen nachzuweisen geschrieben und auch in meinem Podcast über diese sich entwickelnde “Neutrinoastronomie” gesprochen. Neutrinos zu beobachten ist viel schwieriger als die normale Astronomie, die “nur” Licht und andere Arten der elektromagnetischen Strahlung registrieren muss. Die flüchtigen Elementarteilchen sind elektrisch nicht geladen und wechselwirken auch kaum über die elektromagnetische Kraft. Sie reagieren daher auch so gut wie gar nicht mit normaler Materie und das macht es naturgemäß schwer, sie irgendwie zu bemerken. Man braucht riesige Detektoren, um wenigstens ein paar dieser Teilchen nachweisen zu können. Aber für die Astronomie bieten sie eine große Chance: Eben weil sie kaum mit normaler Materie reagieren können sie uns Einblicke in Phänomene gewähren, die wir anders nie kriegen würden.
Neutrinos entstehen zum Beispiel bei den Kernreaktionen im Inneren von Sternen. Mit Licht oder anderer elektromagnetischer Strahlung können wir dort nicht hineinblicken. Aus Sicht der Neutrinos scheint die ganze dichte Sternmaterie aber gar nicht zu existieren. Sie sausen glatt durch den Stern durch und entkommen direkt ins All. Aus der Untersuchung der Neutrinos, die im Zentrum unserer Sonne entstanden sind, haben wir beispielsweise gelernt, welche Kernreaktionen dort wirklich für die Umwandlung von Wasserstoff und Helium und ihre Energieproduktion verantwortlich sind.
Aber auch bei Supernovaexplosionen entstehen Neutrinos, die auf ihrem Weg hinaus ins All nicht von den Gaswolken um den sterbenden Stern (oder irgendwelche anderen kosmischen Wolken zwischen uns und der Supernova) aufgehalten werden. Neutrinos können uns Informationen über das Leben und Sterben von Sternen liefern; aber auch über die Vorgänge in den Zentren von Galaxien. Dort sitzen die riesigen, supermassereichen schwarzen Löcher und wenn sie Materie verschlucken entstehen dabei ebenfalls Neutrinos, die weder durch das ganze Material dort noch durch die starken Magnetfelder gebremst oder abgelenkt werden.
Es gibt bei der Suche nach Neutrinos nur ein Problem. Beziehungsweise zwei: Das erste Problem ist der schon angesprochene schwierige Nachweis. Aber das funktioniert mittlerweile halbwegs. Ein anderes Problem ist herauszufinden, wo die Neutrinos herkommen. Beim normalen Licht kann man meistens ziemlich genau sagen, von welcher Stelle am Himmel es zu uns gelangt ist. Bei Neutrinos ist das schwerer. Hat mein eines registriert, dann kann man ihren Ursprung momentan bestenfalls auf eine Region am Himmel eingrenzen, die 20 mal größer als der Vollmond ist (und meistens nicht einmal das).
Die meisten nachgewiesenen Neutrinos kommen natürlich von der nahen Sonne zu uns. Sie ist die stärkste Neutrinoquelle in unserer Nachbarschaft. Aber manche Neutrinos haben eine so hohe Energie, dass sie nicht bei den normalen Kernreaktionen im Zentrum unseres Sterns entstanden sein können. Sie müssen anderswo aus dem All stammen, wo die Dinge ein wenig heftiger ablaufen. Explodierende Riesensterne, aktive Kerne ferner Galaxien, und so weiter – aber wie gesagt: Die Quelle zu bestimmen ist schwer. Bis jetzt ist das (neben der Sonne) nur bei der nahen Supernova im Jahr 1987 gelungen, die in der Großen Magellanschen Wolke, unserer Nachbargalaxie, stattfand.
Aber Yang Bai von der Universität Wisconsin und seine Kollegen haben nun vielleicht Neutrinos aus einer weiteren extrasolaren Quelle identifiziert (“Neutrino Lighthouse at Sagittarius A*”): dem zentralen schwarzen Loch im Zentrum der Milchstraße. So wie in allen anderen Galaxien, sitzt auch bei uns ein großes, supermassereiches schwarzes Loch in der Mitte. Es ist relativ ruhig und nicht so aktiv wie zum Beispiel die fernen Quasare. Ein schwarzes Loch macht normalerweise nicht viel. Nur wenn Materie in seiner Nähe ist, wird es interessant. Die sammelt sich in einer schnell rotierenden Scheibe um das Loch, bevor es hineinfällt und während sie das tut, wird dabei jede Menge Röntgen- und Gammastrahlung frei. Und es entstehen – vermutlich – auch viele hochenergetische Neutrinos.
Bai und seine Kollegen haben nun Beobachtungen von drei Weltraumteleskopen die Gamma- und Röntgenstrahlung beobachten mit Detektionen des Neutrino-Observatoriums IceCube in der Antarktis kombiniert. Denn auch wenn unser galaktisches schwarzes Loch meistens recht brav ist, gibt es ab und zu doch ein paar Aktivitätsausbrüche. Dann kann man helles Röntgenlicht beobachten. Aber was ist mit den Neutrinos? IceCube hat seit seiner Betriebsaufnahme im Jahr 2010 insgesamt 36 hochenergetische Neutrinos nachgewiesen, die nicht von der Sonne stammen (ja, es waren tatsächlich so wenige – ich sag ja, dass die Dinger schwer zu kriegen sind!). Die Wissenschaftler haben nun nachgesehen, ob ein paar davon genau dann registriert worden sind, als die Weltraumteleskope auch gerade Röntgenausbrüche beim schwarzen Loch gesehen hatten.
Und genau das war der Fall. Röntgenlicht, das von den Teleskopen Chandra, Swift und NuStar gesehen wurde passte zeitlich mit Detektionen von IceCube überein! Das ist natürlich noch kein Beweis, dass Röntgenstrahlung und Neutrinos wirklich aus der selben Quelle stammen. Aber zumindest ein guter Hinweis und die Chance, dass es nur Zufall war liegt bei etwa einem Prozent.
Die Beobachter werden weiter beobachten. Und die Theoretiker werden weiter nachdenken. Denn es ist immer noch nicht völlig klar, auf welchem Weg die Neutrinos in der Umgebung supermassereicher schwarzer Löcher produziert werden. Sie könnten entstehen, wenn Schockwellen in der Materiescheibe um das Loch einzelne Teilchen auf hohe Geschwindigkeiten beschleunigen. Dabei kann es zu Kollisionen kommen (wie in einem Teilchenbeschleuniger), die am Ende in Neutrinos resultieren.
Es wird noch ein wenig dauern, bevor die Neutrinoastronomie ihren Kinderschuhen entwachsen ist. Aber wir sind offensichtlich auf einem guten Weg und am Ende werden wir eine völlig neue Methode haben, um das Universum zu betrachten. Und wenn man die Dinge auf eine neue Weise betrachtet, dann entdeckt man dabei so gut wie immer etwas, mit dem man zuvor nicht gerechnet hat…
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