Die dunkle Materie gehört zu den faszinierendsten Phänomenen in unserem Universum (und ich habe mich hier sehr ausführlich damit beschäftigt). Ein Großteil der Materie ist unsichtbar und besteht aus einer Art von Elementarteilchen, die wir bisher noch nicht nachweisen konnten. Wir bemerken ihre Anwesenheit aber trotzdem, da auch die dunkle Materie eine Gravitationskraft ausübt und wir überall Sterne und Galaxien beobachten, die sich auf eine Art und Weise bewegen, die nur durch die Anwesenheit zusätzlicher, aber eben nicht sichtbarer Materie erklärt werden kann. Aber stimmt das wirklich? Ist die Existenz dunkler Materie die einzig mögliche Erklärung? Nicht ganz – theoretisch könnte auch das Gravitationsgesetz, das wir zur Berechnung der Bewegung von Sternen und Galaxien nicht ganz korrekt sein (dieses Szenario hatten wir ja früher schon, als zur Erklärung der Bewegung des Merkur die Einführung eines neuen Gesetzes – die Allgemeine Relativitätstheorie – nötig wurde). Von Anfang an haben die Wissenschaftler beide Möglichkeiten verfolgt, aber im Laufe der Zeit hat sich ein mögliches neues Gravitationsgesetz für die Mehrheit der Forscher als die schlechtere und unpraktischere Alternative herausgestellt. Alles deutet tatsächlich auf die Anwesenheit dunkler Materie hin. Aber bis die Sache durch den direkten Nachweis dieser Materie endgültig geklärt ist, lohnt es sich, auch den anderen Ansatz nicht völlig aus den Augen zu verlieren. Und eventuell könnten uns die Kometen dabei helfen…
Die Hypothese eines modifizierten Gravitationsgesetz läuft unter dem Namen MOND. Das hat nichts mit dem Trabanten der Erde zu tun sondern steht für MOdified Newtonian Dynamics, also Modifiziertes Newtonsches Gravitationsgesetz. Man geht dabei davon aus, dass Newtons (bzw. Einsteins) Formulierung der Gravitation nur eine Annäherung an die Realität ist, die zwar in den meisten Fällen ziemlich gut stimmt, aber eben nicht immer. Besonders dann nicht, wenn nur sehr schwache Gravitationskräfte im Spiel sind. Dann ist es laut MOND nötig, die klassische Formel ein wenig zu modifizieren. Im Alltag merken wir nichts von der veränderten Formel, denn hier ist das alte Gesetz immer noch genau genug (Genau so merken wir im Alltag ja auch nichts von der Abweichung zwischen Newtonscher und der genaueren Einsteinschen Formulierung). Aber wenn es um kosmische Distanzen und Abstände zwischen Sternen und Galaxien geht, wird die Abweichung bemerkbar und ihre Bewegung kann nur mit MOND korrekt beschrieben werden.
Soweit die Theorie. Und da es sich um eine mathematische Formulierung handelt, ist es hier immer irgendwie möglich, ein Gesetz zu finden, mit dem sich die Beobachtungen beschreiben lassen. Die Frage ist nur, wie man nachweisen kann, dass diese Formulierung auch tatsächlich die Realität beschreibt und vor allem wie man sicher stellt, dass MOND auch alle Phänomene widerspruchsfrei erklärt. Denn ein Naturgesetz soll ja nach Möglichkeit überall gelten. Deswegen wäre es wichtig, dass man mit MOND viele verschiedene Vorgänge auf vielen verschiedenen Größenskalen beschreiben kann. Also nicht nur die Bewegung von Galaxien und Sternen, sondern zum Beispiel auch die von Planeten. Aber gerade in diesen Fällen soll sich MOND ja kaum von der normalen Formulierung unterscheiden…
Lucie Maquet von der Europäischen Raumfahrtagentur und ihr Kollege Frédéric Pierret haben sich Gedanken über dieses Problem gemacht und gezeigt, dass die Bewegung von Kometen vielleicht wichtige Hinweise bringen könnte. Besonders Kometen die sich auf ihrer Bahn weit von der Sonne entfernen, spüren am sonnenfernsten Punkt nur noch eine sehr schwache Gravitationskraft. Hier könnten eventuell vorhandene Effekte von MOND die Bahn beeinflussen und zu Abweichungen in der durch das normale Gravitationsgesetz vorhergesagten Bewegung führen.
Maquet und Pierret haben die Sache einmal durchgerechnet (“Coupling the non-gravitational forces and Modified Newton Dynamics for cometary orbits”). Und das ist knifflig, denn bei den Kometen wissen wir jetzt schon, dass ihre Bewegung nicht alleine durch die klassische Gravitation bestimmt wird. Bei kleinen Himmelskörpern kann auch die Strahlung der Sonne einen Einfluss auf die Bewegung haben. Zum Beispiel über den Jarkowski-Effekt. Aber auch dadurch, dass die Wärme der Sonne bei Kometen dazu führt, dass das gefrorene Material in ihnen ausgast und so eine kleine Kraft ausübt. Maquet und Pierret haben diese Effekte in ihren Modellen berücksichtigt und mit den zu erwartenden Veränderungen durch MOND kombiniert.
Die Mathematik die hinter solchen Berechnungen steht ist nicht unbedingt simpel. Man muss sich dabei mit jeder Menge komplizierter Gleichungen herumschlagen – zum Beispiel diesen hier:
Das sind die Bewegungsgleichungen die beschreiben, wie sich die Bahn eines Himmelskörpers im Lauf der Zeit verändert und ich will sie gar nicht weiter erklären. Ich wollte sie nur mal wieder zeigen, weil ich sie selbst schon so lange nicht mehr gesehen haben und mich ein wenig wehmütig an die Zeit zurück erinnere, als ich diesen ganzen himmelsmechanischen Kram noch wirklich gut verstanden habe 😉 (Wer möchte, kann sich aber meine Serie zur Störungsrechnung durchlesen, da habe ich ein bisschen mehr dazu gesagt: Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4).
Am Ende haben Maquet und Pierret jedenfalls ein Modell entwickelt, mit dem sich die Abweichungen vorhersagen lassen, die zusätzlich zu den bekannten nichtgravitativen Effekten durch MOND verursacht würden. Diese Gleichungen haben sie dann an drei Kometen ausprobiert: 1P/Halley, 153P/Ikeya-Zhang und 2P/Encke. Idealerweise würde man das Modell ja an Kometen testen, die sich wirklich weit weg von der Sonne bewegen, bis hinaus in die Oortsche Wolke. Aber diese Kometen brauchen ein paar zehn- bis hunderttausend für eine Runde um die Sonne und so lange will man dann für die Prüfung der These doch nicht warten. Von den bekannten Kometen, die halbwegs überschaubare Umlaufzeiten von weniger als 200 Jahren haben, haben Halley und Ikeya-Zhang den größten mittleren Abstand zur Sonne (und Encke hat man als Vergleich dazu genommen, weil er nur einen sehr kleinen mittleren Abstand hat).
Das Modell hat gezeigt, dass die Effekte klein sind. Wirklich klein… verschiedene mögliche MOND-Formulierungen würden eine zusätzliche Drehung der Kometenbahn mit einer Geschwindigkeit in der Größenordnung von maximal einigen Dutzend Millibogensekunden pro Jahrhundert verursachen. Aber das ist immer noch schnell genug, um gegenüber den anderen nichtgravitativen Effekten (die Änderungen von einigen 100 Millibogensekunden pro Jahrhundert verursachen) nicht vernachlässigt werden zu können. Ob man diesen Effekt – sofern er wirklich vorhanden ist – aber auch messen kann, ist fraglich. Die Änderungen bewegen sich gerade an der Grenze der Messgenauigkeit. Aber – und wer wüsste das besser als die Europäische Raumfahrtagentur! – wir sind ja gerade dabei, sehr viel über Kometen zu lernen. Die Rosetta-Mission wird unser Wissen über die Dynamik von Kometen enorm verbessern. Immerhin folgt die Raumsonde ihrem Kometen noch mindestens bis Dezember 2015 und beobachtet dabei genau, wie das ausströmende Gas seine Bahn verändern wird. Mit solchen Informationen kann man die mathematischen Modelle präziser machen und die Vorhersagen genauer.
MOND ist eine Hypothese, die heute nur noch von einer Minderheit der Astronomen favorisiert wird. Die Mehrheit (und da zähle ich mich dazu) ist von den Belegen für die Existenz dunkler Materie überzeugt. Aber man weiß nie, wo man im Universum etwas neues finden kann! Die Kometen im Blick zu behalten, lohnt sich auf jeden Fall! Im besten Fall entdecken wir ein völlig neues Naturgesetz und verstehen die Gravitation (und den gesamten Kosmos) besser als zuvor. Und selbst wenn nicht, dann haben wir danach doch zumindest sehr viel mehr über die Kometen gelernt. So oder so – wir können nichts verlieren.
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