Annie Jump Cannon und ihre Kolleginnen waren fähige Astronominnen, die diese Arbeit gut erledigten. Das war aber mit Sicherheit nicht der einzige Grund, warum Pickering für diesen Job nur Frauen engagierte: Damals wie (leider) heute immer noch konnte man Frauen für die gleiche Arbeit weniger Geld bezahlen als Männer und Pickering konnte mit dem gleiche Budget mehr Arbeit erledigen lassen als es bei männlichen Astronomen möglich gewesen wäre. So oder so – Cannon und ihre Kolleginnen haben die Klassifikation auf jeden Fall sorgfältig durchgeführt; obwohl es anfangs noch Diskussionen darüber gab, wie und nach welchen Kriterien man die Sterne ordnen sollte. Je nach Helligkeit und/oder Temperatur wurden die Sterne in bestimmte Gruppen gesteckt, die zuerst einfach mit den Buchstaben des Alphabets bezeichnet wurden. Annie Jump Cannon erkannte aber bei genauer Betrachtung der Sternspektren, dass die hellsten Sterne auch die heißesten waren und sortierte die Sterne nun nach der Temperatur. Die neue Klassifikation begann nun mit den heißen “O-Sternen”, dann folgten die vom Typ B, danach Typ A, dann F, dann G (zu der Gruppe gehört auch unsere Sonne), dann K und dann M. Der berühmte Merksatz für diese Abfolge – “Oh Be A Fine Girl, Kiss Me” – stammt ebenfalls von Cannon.
All diese Arbeit hat Cannon übrigens gemacht, während sie so gut wie taub war. Noch vor ihrem Astronomie-Studium in Wellesley verlor sie bei einer Scharlacherkrankung fast ihr komplettes Hörvermögen. Aber das hat sie dazu gebracht, sich noch mehr der Arbeit zu widmen und vielleicht konnte sie sich gerade wegen ihre Taubheit so sehr auf die Auswertung der Fotografien konzentrieren, dass sie zum schnellsten “Computer” von Harvard wurde. Sie schaffte bis zu drei Sterne pro Minute und hat zwischen 1911 und 1915 eine Viertelmillion Sterne katalogisiert.
Im Jahr 1922 wurde sie dann schließlich zu Harvards Sternwarte in Peru geschickt. Jetzt konnte sie endlich selbst beobachten, Aufnahmen machen und die Sterne des Südhimmels so katalogisieren wie sie es auch schon am Nordhimmel getan hat. Am Ende hatte sie fast eine halbe Million Sterne klassifiziert, und – neben vielen anderen Entdeckungen – damit die Grundlage für die moderne Astronomie der folgenden Jahrzehnte gelegt.
Heute mag es uns ein wenig “langweilig” vorkommen, wenn wir von Sternkatalogen und Klassifizierungen hören. Heute liest man in den Medien lieber über schwarze Löcher, ferne Galaxien, dunkle Materie, explodierende Sterne, fremde Planeten und ähnliches. Aber all diese Entdeckungen und Erkenntnisse der heutigen Zeit wären nicht möglich gewesen, wenn nicht zuvor irgendwer eine detaillierte und exakte Bestandsaufnahme des Himmels durchführt (über die fundamentale Bedeutung der “langweiligen” Sternkataloge habe ich hier viel mehr geschrieben). Wenn man nicht weiß, wo die Dinge sind, die man schon kennt und welche Eigenschaften sie haben, dann kann auch nichts Neues entdecken! Annie Jump Cannon hat diese Grundlage für die ihr nachfolgenden Astronomen und Astronominnen gelegt und hat die vielen Ehrungen und Preise, die ihr später im Leben verliehen wurden, mehr als verdient! Und heute wird immer noch jedes Jahr der Annie-Jump-Cannon-Preis an herausragende Astronominnen verliehen – in diesem Jahr übrigens an die Himmelsmechanikerin Smadar Naoz über deren faszinierende Arbeit über die Dynamik extrasolarer Planeten ich sicher noch einmal extra berichten werden.
Annie Jump Cannon starb am 13. April 1941. Und so wie bei Caroline Herschel war es auch bei ihr schwer, Literatur zu finden, die über Aufsätze in Zeitschriften, Lexikoneinträge und Erwähnungen in Büchern mit anderen Themen hinausgeht. Bei Herschel hatte ich zumindest noch eine – wenn auch nicht wirklich gute – spezifische Biografie gefunden. Annie Jump Cannos Leben und wichtige wissenschaftliche Arbeit scheint dagegen kein einziges eigenes und ausführliches Buch hervorgebracht zu haben. Aber zumindest gibt es einen Bildband für Kinder, der die wesentlichen Informationen enthält: “Annie Jump Cannon, Astronomer”* von Carole Gerber und Christina Wald. Wie gesagt, es ist ein Buch für Kinder und nur auf englisch erhältlich. Für englischsprachige Kinder (bzw. zum Vorlesen oder zum Bilder ansehen und gemeinsam darüber reden für deutschsprachige Kinder) ist es aber kein schlechtes Buch. Die Illustrationen sind nicht außergewöhnlich, aber gut und zeigen genug interessante wissenschaftliche Details, um darüber nachdenken bzw. diskutieren zu können. Die schwierige Situation von Frauen in der Wissenschaft der damaligen Zeit wird verständlich erläutert und wenn ich mir auch ein paar mehr Details über die eigentliche astronomische Arbeit von Cannon und ihre Bedeutung für die moderne Astronomie gewünscht hätte, kann ich es doch empfehlen. Wer allerdings eine echte Biografie von Cannon lesen will, muss entweder selbst eine verfassen oder sich die Informationen aus den verschiedenen vorhanden Quellen zusammensuchen…
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