Auch im Februar habe ich wieder jede Menge Bücher gelesen, die ich euch weiter empfehlen möchte. Diesmal geht es um Chaos, um Sprachwissenschaft, Science-Fiction und Neutrinos.
Chaos!
Euch ist vielleicht aufgefallen, dass ich in letzter Zeit regelmäßig Artikel über Chaostheorie veröffentliche. Das liegt einerseits natürlich daran, dass ich als Himmelsmechaniker früher aktiv auf diesem Gebiet gearbeitet und geforscht habe. Und natürlich auch daran, dass das Chaos ein höchst faszinierendes Thema ist, über das man gar nicht genug erzählen kann. Vor allem aber liegt es an einem Buch, das mir jemand aus Leserschaft (bzw. ich glaube, es war die Podcasthörerschaft) zu Weihnachten geschenkt hat. Es heißt “CHAOS: Making a New Science”, wurde von James Gleick geschrieben und ist schon ein wenig alt. Es stammt vom Ende der 1980er Jahre – aber das ist gar kein großes Problem. Denn das war auch genau die Zeit, in der die Erforschung des Chaos sich von einer seltsamen Beschäftigung seltsamer Forscher zu einer ernsthaften mathematischen und naturwissenschaftlichen Disziplin gewandelt hat. Wie genau dieser Wandel abgelaufen ist, kann man ihm Buch von Gleick wunderbar und auch im wesentlichen allgemein verständlich nachvollziehen.
Es schwer, genau zu bestimmen, wann und wo das seinen Ursprung hat, was man heute landläufig als “Chaostheorie” bezeichnet. Als Astronom bin ich geneigt, den Anfang in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zu legen. Da konnte der französische Mathematiker Henri Poincaré nachweisen, dass die Bewegung der Himmelskörper niemals exakt und für alle Zeiten im voraus berechnet werden kann. Die entsprechenden Gleichungen sind einfach nicht lösbar, weil die ihnen zugrunde liegende gravitative Wechselwirkung zwischen den Planeten zu komplex ist. Damit hat er einen Schlussstrich unter die Vorstellung gezogen, dass Universum wäre ein Art “großes Uhrwerk” und würde man nur ausreichend genug über seinen Zustand Bescheid wissen, könnte man auch seine Zukunft beliebig genau bestimmen. Und Poincarés mathematischen Untersuchungen zur Komplexität der Planetenbewegung haben die Grundlage für die moderne Himmelsmechanik mit all ihren chaotischen Aspekten gelegt. In Gleicks Buch fängt die Geschichte des Chaos aber fast 100 Jahre später an, mit dem Meteorologen Edward Lorenz und dessen Versuchen, die Luftströme in der Atmosphäre in einem Computermodell abzubilden. Wie ich anderswo schon ausführlich erklärt habe hat das zur Entdeckung des ersten “seltsamen Attraktors” geführt, also den geheimnisvollen und mit normaler Geometrie nicht beschreibbaren Gebilden, die in allen komplexen dynamischen Systemen auftauchen und eine exakte Vorhersage ihres Verhaltens unmöglich machen. Gleick hat aber auch mit vielen anderen Pionieren der Chaosforschung geredet: zum Beispiel Benoît Mandelbrot, Mitchell Feigenbaum, Robert May oder Stephen Smale; er hat die parallele Entwicklung in der damaligen Sowjetunion durch Leute wie Kolmogorow oder Liapunov betrachtet und bietet vor allem immer auch sehr interessante Einblicke in das Arbeitsleben dieser Wissenschaftler. Denn heute ist die Beschäftigung mit chaotischen Systemen ein völlig normaler Bestandteil der Physik, Astronomie, Biologie oder Mathematik. Damals aber wussten die meisten Wissenschaftler nichts mit dieser seltsamen Disziplin anzufangen. Es war keine “echte” Mathematik; es war keine “echte” Physik und sah von außen mehr nach einer sinnlosen Spielerei mit Computern aus (die damals ja ebenfalls noch nicht so weit verbreitet waren). Es gab keine Arbeitsgruppen auf diesem Gebiet, keine Studiengänge, keine Fördergelder, keine Möglichkeit um Doktorarbeiten über Chaos schreiben zu können, keine Fachzeitschriften, keine Konferenzen, und so weiter.
Gleicks Buch ist zwar alt, aber als Einführung in die Entwicklung der wissenschaftlichen Erforschung des Chaos ist es trotzdem sehr zu empfehlen. Die Wissenschaft, die hinter dem Chaos steckt, wird verständlich erklärt und die Biografien der beteiligten Forscher werden spannend präsentiert. Vor allem zeigt Gleick aber, wie fundamental das Chaos wirklich ist und das es tatsächlich überall in der Natur zu finden ist. Und angesichts dieser grundlegenden Bedeutung, die die komplexen dynamischen Systeme haben, ist es eigentlich unverständlich, dass darüber so wenig allgemeinverständliche Literatur existiert (zumindest wenn man es mit dem Angebot zu Quantenmechanik und Relativitätstheorie vergleicht). Lest das Buch, es lohnt sich!
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