Ronsons Buch ist aber nicht nur eine Auflistung diverser Geschichten aus dem Internet. Er stellt die moderne Form des Shitstorms in einen historischen und gesellschaftlichen Kontext und gibt zum Beispiel einen Überblick über Beschämung als Strafe und juristisches Mittel im Laufe der Geschichte (und auch heute noch gibt es Richter in den USA, die Leute dazu verurteilen, sich öffentlich selbst zu erniedrigen und dafür zum Beispiel mit einem Schild an einer belebten Kreuzung stehen müssen, auf dem ihre Verfehlungen für alle sichtbar aufgeschrieben stehen). Ronson spricht mit Psychologen und Soziologen um heraus zu finden, welche Gründe Menschen dazu bringen, andere zu erniedrigen und wieso es uns allen so leicht fällt, andere öffentlich zu verurteilen. Ein sehr interessanter Teil von Ronsons Buch beschäftigt sich aber auch mit der Frage, wie sich die Verachtung der Öffentlichkeit auf die Beschämten selbst auswirkt und er spricht dazu nicht nur mit Leuten, die im Prinzip nichts Schlimmes getan haben, sondern auch mit Menschen, deren Aktionen durchaus kritikwürdig waren – darunter zum Beispiel der Autor Jonah Lehrer, der Teile seiner Sachbücher plagiiert bzw. einfach erfunden hatte und deswegen wiederholt von öffentlicher Kritik und Shitstorms betroffen war.
Jon Ronsons Buch ist definitiv interessant; auch wenn es vielleicht ein klein wenig zu viele Themen auf einmal behandeln will. Man bekommt aber auf jeden Fall einen guten Überblick über das Phänomen der öffentlichen Beschämung und sehr informative Einblicke in die Weltsicht derjenigen, die sich mit Begeisterung an Shitstorms u.ä. Aktionen beteiligen. Und nach der Lektüre überlegt man es sich dann (hoffentlich) zweimal, ob man bei der nächsten #wasauchimmergate-Aktion unbedingt mitmachen muss; ob wirklich jeder Unsinn der irgendwo bei Facebook gepostet wird, extra kritisiert werden muss und ob es tatsächlich nötig ist, sich in alles einzumischen, was irgendwo im Internet passiert.
Die arabische Wissenschaft
Wenn wir an die Wissenschaft in der ferneren Vergangenheit denken, dann fallen uns dabei meistens die Philosophen der (griechischen) Antike ein. Oder die wissenschaftlichen Pioniere der europäischen Rennaissance. Dass in der Zeit dazwischen aber auch in einer ganz anderen Region und einem ganz anderen Kulturkreis sehr aktive und wichtige Forschung betrieben wurde, ist uns eher nicht bewusst. Gemeint ist die arabische Wissenschaft, vor knapp 1000 Jahren ihre Blütezeit erlebt hat und die der britische Physiker und Wissenschaftspräsentator Jim Al-Khalili in seinem Buch “Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur” (im Original “Pathfinders: The Golden Age of Arabic Science”) sehr umfassend vorstellt.
Al-Khalili wuchs im Irak auf und emigrierte als Kind mit seinen Eltern nach Großbritannien. Der Irak und vor allem dessen Hauptstadt Bagdad ist auch der Schauplatz der Geschichten des Buchs. Geschichten, in denen natürlich auch der Islam eine große Rolle spielt; trotzdem – und darauf weist Al-Khalili extra hin – geht es nicht um “islamische Wissenschaft”, denn nicht alle Forscher die damals dort gelebt haben, waren zwingendermaßen auch Moslems. Es ist aber aus heutiger Sicht natürlich schwer, die Geografie von der Religion zu trennen. Und die Religion von den Vorurteilen. Verlässt man sich auf die einschlägigen Medienberichte, dann tauchen Moslems da ja fast ausschließlich als fanatische und rückständige Terroristen auf, die mit Wissenschaft nichts zu tun haben wollen. Dass diese Einstellung aber nicht notwendigerweise aus dem Islam selbst begründet ist, zeigt der erste Teil von Al-Khalilis Buch. Da wird ein historisch-politischer Überblick über die Region gegeben und ich fand vor allem die Erklärungen zur theologischen Strömung des Mu’tazila äußerst interessant. In dieser islamischen Philosophie, die vor allem zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert weit verbreitet war, standen rationale Argumente im Vordergrund, auch und gerade bei religiösen Fragen. Und es ist deswegen auch nicht verwunderlich, dass während dieser Zeit Beschäftigung mit Wissenschaft einen Höhepunkt erlebte.
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