Den arabischen Gelehrten wird ja immer noch oft nur die Rolle der Bewahrer und Übersetzer zugestanden. Sie hätten die alten Texte der griechischen Antike ins arabische transkribiert, aufbewahrt und so dafür gesorgt, dass sie später von den europäischen Gelehrten wieder ins lateinsche übersetzt und weiter bearbeitet werden konnten. Dass das aber bei weitem nicht alles war, was damals passierte, zeigt Al-Khalilis Buch sehr eindrucksvoll. Die Übersetzungen der antiken Texte waren nur der Ausgangspunkt für eigene, weitreichende Forschung. Im zweiten Teil des Buchs beschreibt Al-Khalili dann auch diese Arbeit sehr ausführlich; er schildert zum Beispiel die fast schon modernen Ansätze großer “Forschungszentren”, den Bau von Sternwarten an denen umfassende Kataloge erstellt worden sind oder die Arbeit von Mathematiker, deren Einfluss bis in die Gegenwart reicht. Nicht umsonst stammen Wörter wie “Algebra” oder “Algorithmus” aus der damaligen Zeit: Letzteres verdanken wir zum Beispiel der Arbeit von Al-Chwarizmi, der als erster nicht einfach nur Lösungen für individuelle mathematische Probleme präsentierte, wie es bis damals üblich war, sondern allgemeine Lösungsvorschriften und -regeln aufstellte, die sich für eine Vielzahl von Problemen anpassen liesen. Von Al-Chwarizmi stammt auch das Buch mit dem wunderbaren Namen Al-Kitāb al-muḫtaṣar fī ḥisāb al-ğabr wa-ʾl-muqābala”, was so viel heißt wie “Das kurz gefasste Buch über die Rechenverfahren durch Ergänzen und Ausgleichen” und aus dem “al-ğabr” wurde später die “Algebra”.
Im “Haus der Weisheit”, das übrigens keine Metapher ist, sondern eine vom Abbasiden-Kalifen al-Ma’mun gegründete reale “Akademie” im Bagdad des 9. Jahrhunderts mit fast 100 Mitarbeitern, wirkten noch viele andere sehr interessante Persönlichkeiten. Der Philosoph Al-Kindi, oder die drei Banū Mūsā-Brüder, die zum Beispiel Mondfinsternisse beobachteten und daraus die Länge des Jahres für die damalige Zeit äußerst genau bestimmten. Sie beschäftigten sich aber auch mit der Konstruktion verschiedenster Maschinen, zum Beispiel einer selbst regulierenden Lampe oder entwickelten eine Vielzahl an geometrischen und mathematischen Methoden. Und natürlich wird auch der große Physiker Alhazen ausreichend gewürdigt. Unter anderem aufgrund seiner vor 1000 Jahren veröffentlichten Forschung zur Optik ist 2015 ja auch das Internationale Jahr des Lichts.
Al-Khalilis Buch ist voll mit interessanten Biografien von Astronomen, Mathematiker, Physiker, Philosophen, Ärzten und Universalgelehrten, die all diese Disziplinen auf einmal beherrschten. Es ist vielleicht ein klein zu voll mit Informationen; vor allem der historisch-politische Überblick über die Geschichte des frühen Islam hätte ein wenig kürzer ausfallen können. Aber insgesamt ist es ein äußerst lesenswertes Buch und ein Anstoß, die Welt nicht immer aus einer rein europäischen Sicht zu betrachten. Auch anderswo haben kluge Menschen wichtige Dinge geleistet und wer mehr darüber erfahren will, sollte “Im Haus der Weisheit” auf jeden Fall lesen!
Amoklauf im amerikanischen Wald
Ich bin ein großer Fan von T.C. Boyle – man kann eigentlich ohne Bedenken alles lesen, was der Amerikaner geschrieben hat und wird nicht enttäuscht werden. Sein Buch “Wassermusik” sollte sowieso zur Pflichtlektüre für alle gehören, die sich auch nur ein bisschen für gute Literatur interessieren. Und auch das restliche Werk von Boyle ist lesenswert; ganz besonders sein neues Buch “Hart auf hart” (im Original “The Harder They Come”). Die Hauptpersonen sind so eine Art US-amerikanische “Reichsbürger”; also Menschen, die der Meinung sind, dass der Staat in dem sie leben nicht existiert und keinerlei Einfluss auf das Leben eines Individiuums haben kann und darf. Das zumindest denkt die vierzigjährige Sara, die sich darum auch mit jedem Polizisten und allen staatlichen Behörden anlegt. Was mit einer harmlosen Führerscheinkontrolle anfängt, endet dann auch zwangsläufig in einem Kampf gegen das gesamte System, bei dem Sara auf Adam trifft; einen Mittzwanziger mit psychischen Problemen, der sich für eine Art Reinkarnation eines Trappers aus dem Wilden Westen hält, allein im Wald lebt und gegen “die Chinesen” kämpfen will. Die Spirale aus Verschwörungstheorie, Paranoia und Gewalt wird immer heftige und resultiert dann schließlich auch unweigerlich in einem Amoklauf…
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