Von 1. bis 20. April bin ich auf Reisen, halte Vorträge in der Pfalz und in Baden-Württemberg und mache auch ein wenig Urlaub. Für die Zeit meiner Abwesenheit habe ich eine Artikelserie über wissenschaftliche Paradoxien vorbereitet. Links zu allen Artikeln der Serie findet ihr hier.
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Heute ist Sonntag. Und wie so oft am Sonntag wird gewählt. Der Landrat in Darmstadt-Duisburg zum Beispiel. Oder der Bürgermeister von Haldersleben. So wie der Seniorenbeirat von Worms. Und sicherlich stehen noch diverse andere Wahlen an, bei denen die Wählerinnen und Wähler ihr Kreuz machen. Eine überraschende Entscheidung, denn logisch betrachtet ist Wählen eigentlich irrational.

So viel Arbeit für ein paar Kreuze. Lohnt sich das? (Bild: public domain)

So viel Arbeit für ein paar Kreuze. Lohnt sich das? (Bild: public domain)

Zumindest dann, wenn man aus Sicht einer Kosten-Nutzen-Analyse betrachtet. Zur Wahl zu gehen bedeutet einen gewissen Aufwand. Man verliert Zeit; man muss vielleicht Geld ausgeben für Fahrkarten oder Benzin; man muss sich unter Umständen auch vor der Wahl schon mit diverser Bürokratie herum schlagen, um überhaupt zur Wahl zugelassen zu werden. An einer Wahl teilzunehmen kostet also definitiv. Und der Nutzen? Bei so gut wie jeder Wahl spielt die Stimme eines einzelnen Wählers keine Rolle. Es gibt natürlich Ausnahmen, bei denen einzelne Stimmen entscheidend waren, aber im Normfall kommt es auf eine Stimme mehr oder weniger nicht an. Der Nutzen bei einer Wahl ist aus Sicht einer Einzelperson also verschwindend gering. Die rationale Entscheidung wäre also: Nicht wählen gehen!

Trotzdem (und auch wenn die Wahlbeteilung sinkt) nehmen immer noch viele an den diversen Wahlen teil. Das ist die Aussage des Wahlparadox und bevor jetzt alle über mich her fallen: Nein, ich plädiere nicht dafür, nicht an Wahlen teilzunehmen! (kann aber nachvollziehen, warum viele das nicht tun wollen). Aber es ist trotzdem interessant, sich über dieses Paradoxon Gedanken zu machen (auch ScienceBlogs-Kollege Ulrich Berger hat schon vor 5 Jahren darüber geschrieben). Denn es stimmt ja: Die einzelne Stimme hat im Normalfall keine Auswirkung. Und trotzdem sind die meisten überzeugt, dass es wichtig ist, die eigene Stimme abzugeben.

Vermutlich liegt die Auflösung des Wahlparadox in der Annahme begründet, dass Menschen rationale Entscheidungen treffen. Das tun aber die wenigstens. Würden wirklich alle rational die obige Kosten-Nutzen-Analyse durchführen und darum nicht zur Wahl gehen, dann würde plötzlich auch die einzelne Stimme viel mehr Wert werden und es würde sich lohnen, wählen zu gehen. Aber da eben nicht alle rational denken, gehen die Menschen eben zur Wahl, auch wenn ihre einzelne Stimme keinen Einfluss hat.

Über das Wahlparadox lässt sich hervorragend diskutieren (und das dürft ihr natürlich auch gerne tun). Wenn ihr wollt, könnt ihr davor aber auch gerne noch Wählen gehen (falls es bei euch heute etwas zu wählen gibt). Und ihr müsst euch auch nicht darüber ärgern, eine irrationale Entscheidung getroffen zu haben – das ist nur menschlich 😉

Kommentare (17)

  1. #1 Nordlicht_70
    19. April 2015

    Vielleicht gehen einige ja auch wählen, in der Hoffnung, dass die anderen rational denken? 🙂

  2. #2 BerndB
    19. April 2015

    Da gab es mal eine tolle Southpark-Folge darüber.

  3. #3 Spritkopf
    19. April 2015

    Für mich ist Wählen gehen keine lästige Pflicht, sondern ich tu das gern. Es gibt genügend Staaten, in denen die Menschen wer-weiß-was für das Recht geben würden, ihre Regierung demokratisch wählen zu dürfen.

    Und dass meine Stimme für sich allein so gut wie kein Gewicht hat, ist eine notwendige Konsequenz des Prinzips, dass nicht nur einer, sondern die Gemeinschaft ALLER Wähler bestimmt, wer gewählt wird. Andernfalls könnten wir auch gleich wieder zur Diktatur übergehen.

  4. #4 Turi
    19. April 2015

    Kleine Korrektur: Es handelt sich um Darmstadt-Dieburg, nicht Duisburg.

  5. #5 AmbiValent
    19. April 2015

    Die Stimme erscheint nur dann wertlos, wenn man annimmt, dass alle anderen Stimmen bereits feststehen und man dann entscheidet. Da die Stimmen sich aber nicht gegenseitig beeinflussen, spielt die Reihenfolge keine Rolle, so dass man auch annehmen kann, alle stimmen gleichzeitig ab, und jede Stimme ist gleichwertig. Außerdem kann man annehmen, dass sich die anderen Wähler nicht zufällig entscheiden, sondern dass bei ihrer Wahl ähnliche rationale Gründe eine Rolle spielen wie bei einem selbst. Man kann also annehmen, dass viele Wähler ähnlich denken, und deren kollektive Wahl (oder Nichtwahl) kann über die Gewählten entscheiden.

    (Eine Restparadoxie bleibt, wenn man annimmt, dass man schon vorher weiß, dass die Kandidaten, die man wählen will, verlieren werden. Dann entscheidet man sich um und wählt jemand anders oder gar nicht. Es kann aber sein, dass die Kandidaten gar nicht verloren hätten, wenn man sich nicht umentschieden hätte…)

  6. #6 koi
    19. April 2015

    Ganz so unwichtig ist die Stimme nicht. Ich kann mich an eine Landratswahl erinnern, bei der die beiden ersten Plätze genau eine Stimme auseinander waren. Bei der Stichwahl war der Abstand dann aber größer. Bei Kommunalwahlen findet sich auch immer wieder mal ein Fall mit Stimmengleichheit oder extrem geringen Abstand. Dann macht die meine Stimme eben schon was aus. Das ist bei kleinen Zahlen von Wählern natürlich wahrscheinlicher, aber auch bei großen Zahlen eben nie ganz null.

    Ein weiterer Punkt: Auch wenn mein Kandidat nicht gewinnt, stärke ich die Wahlbeteiligung und unterstütze ich damit das Prinzip der (parlamentarischen) Demokratie. Wenn ich nicht wähle brauch ich mich hinterher nicht zu beschweren, wenn ich keine Wahl mehr habe. Wenn ich wähle, darf ich das schon eher. Ich will damit aber jetzt kein Fass aufmachen von wegen keine Wahl oder “wenn wahlen etwas ändern könnten, wären sie verboten” . Diesen Punkt unterschlägt das Paradoxon, das eben davon ausgeht das man die Wahl hat.

  7. #7 Florian Freistetter
    19. April 2015

    @Spritkopf: “Es gibt genügend Staaten, in denen die Menschen wer-weiß-was für das Recht geben würden, ihre Regierung demokratisch wählen zu dürfen.”

    Ja – aber mit dem diskutierten Paradox hat das nicht wirklich etwas zu tun.

  8. #8 Spritkopf
    19. April 2015

    @FF

    Ja – aber mit dem diskutierten Paradox hat das nicht wirklich etwas zu tun.

    Meiner Auffassung nach doch. Denn das Paradox ergibt sich lediglich aus der Kosten-Nutzen-Analyse und die ergibt sich daraus, wie man die Kosten und wie man den Nutzen quantitativ bewertet. Ich habe beispielsweise nur 20 Meter Fußweg zum Wahllokal und einen sonntäglichen Zeitaufwand von insgesamt vielleicht 10 Minuten. Verursacht mir dies Kosten? Nein. Gegen diese 10 Minuten rechne ich den Nutzen, nicht einen Diktator unter hohen Kosten von Geld und Menschenleben aus dem Amt jagen zu müssen.

    Die Ausübung meines Wahlrechts – so wenig sie mich in meinem Fall auch kostet – ist quasi wie die Zahlung einer Versicherungsprämie gegen das Leben in einer Diktatur. Solange es genügend Versicherungsnehmer gibt, funktioniert diese Versicherung. Kritisch wird es, wenn nicht mehr genügend Menschen diese Prämie zahlen wollen.

  9. #9 Tina_HH
    19. April 2015

    So ein Paradox aus der Lebenswelt hinkt ja zwangsläufig irgendwie. In dieser sehr abstrakten Form (rationale Entscheidung und logische Folgen) unterschlägt es jede Menge Motive, die Menschen wirklich haben und warum sie wählen gehen.
    Derer gibt es letztlich so viele, dass man sie gar nicht kurz aufzählen kann – das reicht vom “Mitmachen-und-Dabeisein-Gefühl” bis hin zur Abwägung, dass der Verzicht auf die Stimmabgabe den politischen Gegner, bzw. die Partei stärkt, die man am schlechtesten findet.
    Insofern ist “rational” hier im Grunde nur in einem sehr abstrakten, mathematischen oder idealtypischen Sinne zu verstehen und entspricht nicht wirklich der gesellschaftlichen Realität.

  10. #10 toni
    Dresden
    19. April 2015

    Wählen gehen lohnt sich aber schon eher wenn man die Alternativen betrachtet. Sonntag gibts einfach nichts gescheites zu tun.
    Zudem sind die Kosten gering gegenüber dem sich einstellenden Gefühl von Genugtuung und Pflichterfüllung. Diese emotionalen Aspekte sind sowieso immer wichtiger. Zumdem sind Menschen irrational, das Paradox entsteht also nur, weil man zuerst Rationalität unterstellt.

  11. #11 LeBon
    19. April 2015

    Puh, hinter der Herleitung des angeblichen Wahlparadoxons steckt meiner Meinung nach ein abenteuerlicher Fehlschluss. Man kann ja mal ‘wählen’ mit ‘impfen’ ersetzen: Beim Impfen (bzw. bei der Wahl) gibt es lästigen persönlichen Aufwand wie den Arztbesuch (bzw. den Besuch des Wahllokals) und eine einzelne Impfung trägt nur minimal zur Herdenimmunität bei. Genau diese Herdenimmunität sorgt aber dafür, dass der Nicht-Geimpfte (bzw. Nicht-Wähler) vor Epidemien (bzw. Diktatur) geschützt ist.
    Damit sind die Aussagen zu den persönlichen Kosten und der relativen Bedeutungslosigkeit der einzelnen Impfung (bzw. Stimmabgabe) letztlich nur falsche Fährten, die bei der Ermittlung des Gesamtnutzens des Impfens (bzw. der Demokratie) irrelevant sind.

  12. #12 Torq Serpilian
    19. April 2015

    Das Wahlparadox ist ein typisches sozialpsychologisches Dilemma. Unter der Annahme, dass die eigene Stimme ohnehin nicht den Ausschlag geben wird, liegt es nahe, aus der gesellschaftlichen Übereinkunft “Wir wählen gemeinsam” zu desertieren.

    Gleichwoh, bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass Downs Ausgangsbeschreibung, die letztendlich zum formalen Paradox führt, nicht zutreffend ist.

    So heißt es dort, dass der Kostenvorteil (Nettonutzen) R einer Stimmabgabe allgemeinen mit folgender Formel zu beschreiben wäre.

    R = P B – C

    mit: R: Nettonutzen des Wählens, P: Wahrscheinlichkeit, daß die eigene Stimme etwas bewirkt, B: Kostenvorteil (Benefit), wenn die eigene Stimme etwas bewirkt, C: Kosten, die das Wählen selbst verursacht

    Diese Formel ist sinnlos. Es ist ein mathematische Modell, das keine Aussagekraft hat.

    Zum einen wird der Nutzen der Wahl von Anfang an auf einen Kostenvorteil heruntergebrochen. Das ist eine willkürliche Verkürzung der Kosten-Nutzen-Betrachtung und aus sich heraus nicht gerechtfertigt. Die Formalisierung verkennt insbesondere, dass auch die gemeinsame Teilnahme als solche einen indirekten, aber gleichwohl messbaren Vorteil für jeden einzelnen erbringen kann.

  13. #13 Anne M
    20. April 2015

    Starre Listen (wie im Bild oben) reduzieren die Wahlmöglichkeiten und machen wenig Spass. Bei vielen Wahlen mit freien Listen ist es theoretisch möglich, dass jede eingereichte Liste quasi ein Unikat ist. Ein (nicht nur) intellektuelles Vergnügen.

  14. #14 sax
    20. April 2015

    Bei dem ganzen wird vorausgesetzt, dass man nur den persönlichen Vorteil gegen den eigenen Resourcenaufwand abwägen sollte um eine Handlung als Sinnvoll zu bewerten. Dem will ich vehement widersprechen.

    Ich sehe es als erstrebenswetren Zustand an, das die Regierung welche von der Mehrheit des Volkes gewollt ist regiert. Eine Wahl kann das nur leisten, wenn genug Leute wählen gehen.

    Wenn ich nun als Maßstab für meine Handlungen statt einer simplen egoistischen kosten nutzen Rechnung den kategorischen Imperativ anlege, also so handle, das ich wollen kann das alle anderen auch so handeln, ist wählen gehen zu befürworten und nicht wählen gehen abzulehnen. Nach diesem Maßstab gibt es da kein Paradoxon.

  15. #15 Peroppi
    20. April 2015

    Es ist klar dass das Paradoxon existiert und gleichzeitig ist verständlich, dass sich viele Kommentare etwas empören, überhaupt eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufzustellen. Dieser Gedankengang wird verabscheut, weil es die Grundlage jeder Gesellschaft ist, dass ihre Mitglieder nicht nur ihre eigenen egoistischen Interessen, sondern auch die der gemeinsamen Interessen der Gesellschaft verfolgen.

    Man könnte genauso argumentieren, dass ich meinen Plastikmüll einfach in die Natur werfen darf, statt ihn noch ein paar Schritte zum Mülleimer zu tragen. Was macht es schon aus, wenn nur ich es tue?

    Ist es andererseits nicht ebenso egoistisch, wenn nur ich meinen kleinen Aufwand bei der Wahl einsparen möchte, aber an der guten Gemeinschaftsentscheidung will ich schon teilnehmen? Auch wenn man nicht wirklich weiß, welchen Kandidaten man wählen sollte, so schwächt man doch zumindest das Stimmgewicht der Extremwähler. Jeder vernünftige Mensch tut also sehr wahrscheinlich etwas nützliches, überhaupt wählen zu gehen.

  16. #16 ChristianS
    24. April 2015

    Genau so kann ich es wichtig finden, dass eine Demonstration gut besucht ist, aber mal ehrlich: auf einen mehr oder weniger kommt es doch nun wirklich nicht an, also kann ich doch eben so gut wegbleiben, oder?

    Das sind alles Variationen des Gefangenen-Dilemmas: schön, wenn alle was tun (das kann man insgesamt oder im Einzelfall natürlich auch anders sehen, aber der Fall ist uninteressant), noch besser, wenn man vom Handeln der anderen profitieren kann, doof, wenn keiner was macht (im Falle von Wahlen nehme ich Gleichgesinnte als Bezugsgruppe: doof, wenn keine Person zur Wahl geht, die so denkt wie ich), und richtig ärgerlich, wenn man mit seinem Engagement alleine da steht.

    Beim Impfen ist es etwas anders. Das ist erst recht sinnvoll, wenn es sonst keiner tut, und nutzt meiner Ansicht nach auch dann, wenn alle anderen, die sich impfen lassen können, das getan haben. Und die üblichen Impfgegner argumentieren ja gar nicht mit der Herdenimmunität und fänden es richtig, wenn sich niemand impfen ließe.

    Für die Situation, wo sich alle oder eine Gruppe von Leuten ohne Koordination einig sind, was getan werden sollte, mag ich Hofstadters Ansatz der “Superrationalität”, ähnlich dem Gedankengang von AmbiValent. Die Leute, die so denken wie ich, kommen auch zu denselben Schlüssen wie ich. Also machen sie alle mit, oder niemand. Was ist mir lieber? Natürlich kann mein Entschluss die anderen nicht beeinflussen, aber er macht eine Vorhersage über das Verhalten der anderen. Nun könnte ich nach einer zufriedenstellenden Vorhersage meinen ganz persönlichen Plan noch ändern, aber ach, das können die anderen ja auch! Logisch zwingend ist die Idee der Superrationalität nicht, sondern selbst paradox. Hofstadter schlägt sie als Axiom vor und nimmt an, dass Gesellschaften, die es akzeptieren, einen Überlebensvorteil haben.

    Für Demos habe ich manchmal keine Zeit, aber Wählen (zur Not Briefwahl) geht immer mit wirklich geringem Aufwand, und die Nutzenfunktion ist so unstetig, das ich ganz sicher kein Risiko eingehen werde!

  17. #17 Alex
    1. Mai 2015

    Ein Aspekt zählt: In einem Punkt ist im deutschen Wahlsystem sehr wohl jede einzelne Stimme relevant. Vielmehr geht es nämlich um die Parteienfinanzierung. Denn jede Stimme bringt den Parteien einen festen Betrag ein. So unterstützt der Wähler auch eine Partei und ihr politisches Wirken.