In diesem Keller beginnt nun die Jahrzehnte dauernde und äußerst erfolgreiche Zusammenarbeit mit Otto Hahn. Die beiden entdecken gemeinsam das neue chemische Isotop Protactinium-231 und andere radioaktive Isotope. Seit 1909 auch in Preußen das Verbot des Frauenstudiums aufgehoben ist, darf Lise Meitner auch offiziell das Institut betreten. Eine offizielle Anstellung (und damit auch ein offizielles Gehalt) bekommt sie aber erst 1913 am neugegründeten Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie. Während des ersten Weltkriegs arbeitet sie als Röntgenschwester in den Lazaretten der Ostfront. Nach ihrer Rückkehr nach Berlin machte sie nun langsam auch offiziell Karriere, nachdem sie zuvor schon mit von den anderen Größen der damaligen Physik (Max Planck, Albert Einstein, Marie Curie, etc) als hervorragende Forscherin anerkannt wurden. 1918 wird sie Leiterin der physikalisch-radioaktiven Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts und 1926 außerordentliche Professorin für experimentelle Kernphysik an der Berliner Universität (und damit Deutschlands erste Physik-Professorin).
Mit der Machtergreifung durch Adolf Hitler wird die Lage für die “nicht-arische” Meitner aber kritisch. Sie ist zwar schon vor langer Zeit aus eigener Überzeugung zum Protestantismus konvertiert, aber in der perversen Rassenlehre der Nazis spielt das natürlich keine Rolle. Anfangs ist sie noch zuversichtlich, dass die Lage nicht so schlimm werden wird – aber 1933 wird ihr die Lehrbefugnis entzogen. Aber immerhin war sie noch Österreicherin und damit vor den schlimmsten Auswirkungen des diktatorischen Staatswesens sicher. Das änderte sich 1938 mit dem Anschluss Österreichs an Deutschland. Jetzt wurde Lise Meitner zwangsweise zur Deutschen und war nicht mehr sicher. Sie konnte noch rechtzeitig nach Schweden flüchten, musste dort allerdings sowohl privat als auch wissenschaftlich im Exil leben, was sie sehr deprimierte. In Berlin führten Otto Hahn (und mittlerweile auch Fritz Strassmann) die gemeinsame Arbeit weiter.
Und gerade jetzt; gerade als Meitner Deutschland verlassen musste, kam es zu ihrem größten wissenschaftlichen Durchbruch. Der Chemiker Hahn fand bei seinen Untersuchungen radioaktiver Zerfallsprodukte Elemente, die er sich nicht erklären konnte. Im Dezember 1938 schreibt er an Lise Meitner: “Es würde mich natürlich sehr interessieren, Dein Urteil zu hören. Eventuell könntest du etwas ausrechnen und publizieren.”.
Man wusste zwar schon, dass chemische Elemente sich umwandeln können. Sie können durch Abgabe radioaktiver Strahlung zu anderen Elementen werden. Aber man ging immer davon aus, dass es dabei nur zu Umwandlungen innerhalb der “Nachbarschaft” des Periodensystems kommen kann. Elemente sollten durch Radioaktivität nur kleine Teile ihres Kerns abstrahlen und sich so verändern können. Das, was Hahn bei seinen chemischen Analysen beobachte, schien dazu aber nicht zu passen. Er fand nicht die erwarteten Zerfallsprodukte. Aber Lise Meitner hatte die richtige Idee und konnte tatsächlich “etwas ausrechnen”. Sie fand heraus, das eigentlich nur eines passiert sein konnte: Der Kern der bei den Experimenten untersuchten Uran-Atome hatte sich nicht nur leicht verändert. Er hatte sich gespalten!
Hahn und Meitner hatten die Kernspaltung entdeckt und Meitner rechnete auch sofort aus, das dabei jede Menge Energie frei werden musste (Einsteins berühmte Formel zur Äquivalenz von Masse und Energie war ihr natürlich bekannt). Was das bedeutet, erfährt Meitner erst 1945, als in Japan die erste Atombombe abgeworfen wurde. Schlagartig rückt die Kernspaltung in den Fokus der Öffentlichkeit und damit auch Meitner selbst. Hahn ist zu dieser Zeit mit den anderen deutschen Kernphysikern in britischer Gefangenschaft. Im Gegensatz zu ihren ehemaligen Kollegen hat Meitner aber nie an der Atombombe geforscht und entsprechende Angebote aus den USA immer wieder abgelehnt. Sie war überzeugte Pazifistin und blieb das auch nach Ende des zweiten Weltkriegs.
1945 wurde auch der Nobelpreis für Chemie wieder verliehen und zwar an Otto Hahn für “seine” Entdeckung der Kernspaltung. Lise Meitner ging leer aus. Sie war darüber nicht sonderlich wütend, dafür aber verstimmt, das ihr alter Freund Hahn nichts tat, um in der Öffentlichkeit auf ihre gemeinsame Arbeit hinzuweisen. Aber zumindest in den USA wurde Meitner 1946 als “Frau des Jahres” ausgezeichnet, traf den Präsidenten und wurde von den Medien regelrecht belagert. Davon war sie nicht sonderlich begeistert; ebenso wenig wie von der atomaren Aufrüstung, die nun nach dem Krieg stattfindet. Meitner ist strikt gegen eine militärische Nutzung der Atomkraft.
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