Nachdem ihr Mann Joe zur Columbia University wechselte, wurde die Lage für Maria noch unangenehmer. Sie bekam nun gar kein Gehalt mehr und wurde von der Uni überhaupt nicht in irgendeiner offiziellen Form anerkannt. Sie hatte erst kurz zuvor gemeinsam mit ihrem Mann ein Lehrbuch über statistische Physik fertiggestellt und wollte eigentlich ihren akademischen Arbeitsplatz neben ihrem Namen als Autorin angeben. Ihr Kollege, der Nobelpreisträger Harold Urey setzte sich bei der Universität dafür ein, ihr wenigstens eine unbezahlte Stelle ohne irgendwelche weiteren Rechte zu geben, damit sie zumindest offiziell zur Fakultät der Columbia Universität gehören würde. Aber auch das wurde abgelehnt…
An Goeppert-Mayers Arbeit war man aber weiterhin interessiert. Sie beschäftigte sich mit Quantenmechanik und der Theorie von Atomen und ihren Isotopen. Das wurde besonders relevant, als die USA in den 1940er Jahren begannen, die erste Atombombe zu bauen. Maria war beim Atomwaffenprogramm beschäftigt – später auch in leitender Funktion; war allerdings selbst nie sehr erfreut darüber, an diesem Projekt mitarbeiten zu müssen und war erschüttert, dass die USA die Waffe tatsächlich einsetzten.
Nach dem Krieg nutzte ihr die Arbeit beim Atomprogramm aber nicht viel. Als Joe Mayer einen neuen Job an der Universität von Chicago bekam, wurde sie zwar ebenfalls angestellt, aber wieder einmal ohne Bezahlung. Erst 1953 bekam sie eine offizielle und bezahlte Professorenstelle und erfüllte damit endlich ihren und den Wunsch ihres Vaters, die Familientradition der Goeppert-Professoren fortzusetzen.
In Chicago arbeitete sie mit Edward Teller und Enrico Fermi zusammen. Besonders Fermi inspirierte sie zu der Forschung, auf der sie ihre größten Erfolge feiern sollte. Es ging um die sogenannten magischen Zahlen: Bestimmte Atome sind besonders stabil und daher im Universum auch häufiger als andere (zum Beispiel Helium, Sauerstoff, Blei oder Zinn). All diese Atomkerne hatten eine bestimmte Zahl an Neutronen oder Protonen: die “magischen Zahlen”. Aber warum das so war, wusste damals niemand.
Bei einem Gespräch mit Fermi hatte Goeppert-Mayer aber eine spontane Eingebung, mit der sich das Phänomen erklären ist. Sie verstand, dass es mit der sogenannten “Spin-Orbit-Kopplung” zu tun haben musste. Anschaulich erklärte sie ihre Idee so: Wenn Paare in einem Tanzsaal tanzen, dann drehen sie sich einerseits um sich selbst, andererseits aber auch alle gemeinsam im Kreis herum durch den Saal selbst. Wenn sich alle genau auf die richtige Art und Weise und koordiniert bewegen, dann haben viel mehr Paare Platz als wenn sie irgendwie tanzen würden. Die magischen Zahlen der Kernteilchen in den Atomen entsprechen also einem Ring tanzender Paare, der maximal dicht besetzt ist und der deswegen auch viel stabiler gegenüber äußeren Störungen ist. Diese Erklärung der magischen Zahlen war nicht nur an sich bemerkenswert, sondern außerdem auch noch eine Bestätigung für das Schalenmodell der Kernphysik, das erst durch Goeppert-Mayers Arbeit richtig verstanden werden konnte (nicht zu verwechseln übrigens mit dem Schalenmodell zur Beschreibung von Elektronen in der Hülle von Atomen).
Und damit ist auch klar, wieso die Physikerin Maria Goeppert-Mayer in meiner Serie über Frauen in der Astronomie absolut passend aufgehoben ist. Wenn man Sterne verstehen will, dann muss man zwangsläufig auch verstehen, wie die Atomkerne aufgebaut sind. Denn Sterne erzeugen ihre Energie, in dem sie durch Kernfusion genau diesen inneren Aufbau verändern. Wenn sie bei Supernova-Explosionen ihr Leben beenden, dann finden kernphysikalische Prozesse statt, die ohne Goeppert-Mayers Arbeit nicht verstanden werden könnten. Und so weiter – die Astronomie beschäftigt sich zwar meist mit den großen Dingen im Universum. Aber um die zu verstehen, muss man eben auch Ahnung von den kleinsten Objekten haben!
Im Jahr 1960 übersiedelte das Ehepaar Mayer nach La Jolla in Kalifornien, wo sie beide eine volle Professorenstelle bekamen. Und im Jahr 1963 folgte der größte Triumph in Goeppert-Mayers Karriere: Gemeinsam mit Hans Jensen, mit dem Goeppert-Mayer das Schalenmodell des Atomkerns ausführlich ausgearbeitet hatte und Eugene Wigner bekam sie den Physik-Nobelpreis. Sie war die zweite Frau, der das gelang und die erste theoretische Physikerin (Und wie berichteten die Zeitungen? Mit Schlagzeilen wie “Mutter aus La Jolla gewinnt Nobelpreis”).
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