Das war dann auch das Gebiet, auf dem Lehmann ihre beste Arbeit geleistet hat. Sie sammelte Unmengen an Daten über Erdbeben aus aller Welt, wertete sie aus und probierte, sie zu einem vernünftigen Bild zusammenzusetzen. Man wusste damals schon, dass die Erde kein homogener Himmelskörper sein kann. Dafür war ihre mittlere Dichte zu hoch. Ihr Inneres musste deutlich dichter und damit aus anderem Material beschaffen sein als die äußeren Bereiche. Die Erdbebendaten haben außerdem gezeigt, dass immer ein gewisser “Schatten” besteht. Das also nicht überall auf der anderen Seite der Erde Wellen ankommen, wenn es ein Beben gibt sondern die Seismometer in bestimmten Bereichen stumm bleiben. Das kann nur der Fall sein, wenn dazwischen ein Bereich liegt, den die Wellen nicht durchqueren können und das kann wiederum nur der Fall sein, wenn dieser Bereich aus flüssigem Material besteht.
Man wusste also, dass die Erde inneren Bereich haben muss, der flüssig ist und vermutlich aus dichtem Eisen besteht. Lehmann entdeckte bei ihrer Auswertung der Daten aber, dass dieser “Schatten” nicht völlig undurchlässig war. Sie war immer enorm akribisch und fand Abweichungen, die andere Forscher übersehen hatten. Manchmal gab es dort, wo eigentlich keine Wellen ankommen sollten, eben doch noch Wellen. Und anstatt diese Unstimmigkeiten zu ignorieren, entwickelte Lehmann eine Hypothese: Die Daten würden Sinn machen, wenn es im Zentrum der Erde einen Kern gibt, der fest ist. Dann könnten dort einige der Wellen reflektiert werden und die Abweichungen erklären.
Dieser innere Kern hat einen Radius von etwa 1220 Kilometern, eine Temperatur von etwa 5000 Grad und besteht aus einer Mischung von Eisen und Nickel. Lehmanns Interpretation setzte sich in der wissenschaftlichen Gemeinschaft schnell durch und machte sie in den Jahren und Jahrzehnten danach zu einer der prominentesten und angesehensten Geophysikerinnen. Das wurde besonders nach dem Ende des zweiten Weltkriegs wichtig. Lehmann arbeitete mittlerweile in den USA und dort erlebte die Geologie und Seismologie einen regelrechten Boom. Buchstäblich, denn es war die Zeit der großen Atombombentests und um sie verstehen zu können, musste man die gleichen Techniken wie bei der Untersuchung von Erdbeben anwenden. Außerdem wollte man wissen, ob andere Länder wie die Sowjetunion ebenfalls Atomwaffentests durchführten und dafür war eine möglichst gute seismologische Überwachung notwendig.
Lehmann selbst arbeitete kaum auf diesem Gebiet. Aber ihre Unterstützung jüngerer Wissenschaftler verlieh deren Arbeiten Gewicht. Und das war relevant, denn wer auf einem so sensiblen und vor allem politischen Gebiet wie der Untersuchung von Atomwaffen arbeitet, läuft Gefahr dass die Ergebnisse nicht ernst genommen sondern als politische Einflußnahme gedeutet werden. Lehmanns Ansehen half, das zu vermeiden.
Lehmann wurde über 100 Jahre alt und starb erst am 21. Februar 1993. Sie erhielt jede Menge Ehrungen, ein Preis für Wissenschaftler ist nach ihr benannt, genau so wie ein Asteroid und eine Struktur im Inneren der Erde. Und trotzdem würden heute die meisten Menschen vermutlich keine Antwort auf die Frage: “Wer ist Inge Lehmann?” haben…
Ich habe mir auch schwer getan, vernünftige Literatur über Lehmann zu finden. Eigentlich sollte man denken, dass sich hier genug Material für eine packende Biografie findet. Die Entdeckung des Kerns der Erde! Atombomben! Was will man mehr? Aber ein eigenes Buch über Lehmann scheint es nicht zu geben. Im Jahr 2004 erschien “Inge Lehmann og jordens kerne” von Bjarne Kousholt. Allerdings nur auf dänisch und so wie es aussieht, ist es mittlerweile auch nicht mehr erhältlich (ich habe nur noch Einträge bei Google Books und der Amazon.uk gefunden; lieferbar ist es aber nirgends. Kurze Kapitel über Lehmann findet man auch noch in “Headstrong: 52 Women Who Changed Science-and the World”* und “Out of the Shadows: Contributions of Twentieth-Century Women to Physics”*, die zwar durchaus interessant und lesenswert sind (so wie auch der Rest der beiden Bücher) aber in ihrer Kürze dem Leben und der Bedeutung der Arbeit von Inge Lehmann absolut nicht gerecht werden.
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