Große revolutionäre Entdeckungen in der Naturwissenschaft erwartet man sich vom Europäischen Kernforschungszentrum CERN. Oder der NASA. Oder ähnlich großen Organisationen und Kooperationen von internationalen Forscherteams. Aber man vermutet sie auf den ersten Blick nicht im ungarischen Debrecen, nur ein Stück von der rumänischen Grenze entfernt. Und doch könnten Physiker genau dort vielleicht eine neue Fundamentalkraft und den ersten Hinweis auf eine Physik jenseits des bekannten Standardmodells der Teilchenphysik entdeckt haben.
In Debrecen befindet sich das Institut für Kernforschung der ungarischen Akademie der Wissenschaften. Und die ist durchaus eine Organisation mit dem Potential für große Entdeckungen. Aus ihren Reihen stammen Nobelpreisträger wie der Physiker Eugene Wigner oder der Chemiker Avram Hershko. Und wenn sich das als richtig erweist, was dort im letzten Jahr untersucht wurde, gehören vielleicht auch bald Attila Krasznahorkay und seine Kollegen zu den Preisträgern.
Aber so schnell revolutioniert sich die Physik nicht. Und noch ist nicht wirklich etwas entdeckt worden. Aber es hat auf jeden Fall interessante Forschung stattgefunden. Attila Krasznahorkay und seine Kollegen haben im letzten Jahr einen Fachartikel mit dem Titel “Observation of Anomalous Internal Pair Creation in 8Be: A Possible Signature of a Light, Neutral Boson” veröffentlicht. Die Öffentlichkeit und die Medien haben sich nicht sonderlich dafür interessiert und auch an mir ist diese Publikation komplett vorbeigegangen. Es passiert auch ja jede Menge und es ist kaum möglich, jede Facharbeit zu lesen oder auch nur zu registrieren… Aber vor ein paar Tagen haben Jonathan Fang von der Universität Kalifornien und seine Kollegen ihre eigene Interpretation der ungarischen Daten veröffentlicht (“Evidence for a Protophobic Fifth Force from 8Be Nuclear Transitions” und damit ein wesentlich dramatischeres Medienecho hervorgerufen (Die USA scheinen das mit der Öffentlichkeitsarbeit tatsächlich besser zu beherrschen als der Rest der Welt…).
Ohne tiefergehende Kenntnisse in der modernen Teilchenphysik ist kaum zu verstehen, um was es bei der ganzen Aufregung geht. Krasznahorkay und seine Kollegen haben das Element Lithium-7 untersucht. Sie haben es mit Protonen, also den Bausteinen von Atomkernen, beschossen. Dabei entstand aus dem Lithium ein anderes chemisches Element, Beryllium-8. Das ist allerdings instabil und zerfällt radioaktiv. Bei diesem Zerfall werden Paar von Elektronen und deren Antiteilchen, den Positronen frei. So weit ist alles noch im Rahmen dessen, was man weiß und kennt. Die ungarischen Forscher haben aber festgestellt, dass die Anzahl der Elektron-Positron-Paare nicht exakt den theoretischen Vorhersagen folgt. In bestimmten Bereichen findet man mehr davon als erwartet. Krasznahorkay und seine Kollegen vermuten, dass ein bisher unbekanntes Teilchen dafür verantwortlich sein könnte. Ein kleiner Teil der instabilen Beryllium-8-Kerne gibt die Zerfallsenergie nicht durch die erwarteten Elektron-Positron-Paare ab, sondern in Form eines anderen Teilchens, das dann erst später selbst zu Elektronen und Positronen zerfallen.
Dieses Teilchen wäre 34 Mal schwerer als ein Elektron und die ungarischen Wissenschaftler denken, dass es sich um ein “dunkles Photon” handeln könnte. Dabei geht es um die dunkle Materie. Wir wissen ja schon seit fast 100 Jahren, dass im Universum neben der “normalen” Materie auch noch eine völlig andere Art der Materie existieren muss (und wir wissen das übrigens wirklich und haben uns das nicht einfach nur aus Spaß an der Freude ausgedacht – siehe dazu hier). Diese dunkle Materie übt eine Gravitationskraft aus und wird von der Gravitationskraft der normalen Materie beeinflusst. Aber nicht von den anderen uns bekannten Kräften. Das sind die elektromagnetische Kraft, die starke Kernkraft (die die Protonen und Neutronen in den Atomkernen zusammenhält) und die schwache Kernkraft (die dafür sorgt das sich Protonen und Neutronen ineinander umwandeln können). Und da die dunkle Materie eben weder die elektromagnetische Kraft spürt noch selbst eine solche ausübt, ist sie auch nicht “sichtbar” – denn Licht ist ja nichts anderes als eine elektromagnetische Welle.
Bis jetzt ging man davon aus, dass es sich bei der dunklen Materie um ein noch unentdecktes Elementarteilchen handelt. Bis jetzt hat man dieses Teilchen aber trotz vieler Versuche nirgendwo nachweisen können. Also beginnt man langsam, sich andere Gedanken zu machen. Es wäre zwar elegant und einfach gewesen, wenn die gesamte dunkle Materie tatsächlich mit einem einzigen Teilchen erklärbar wäre. Aber nur weil es einfach ist, muss es nicht richtig sein. Die normale Materie besteht ja auch aus vielen verschiedenen Teilchen. Da gibt es Quarks, Elektronen, Photonen, Positronen, und so weiter. Warum also sollte die dunkle Materie anders sein? Vielleicht besteht auch sie aus einer ganzen Gruppe von “dunklen Elementarteilchen”. Und zwischen diesen “dunklen Teilchen” müssten dann auch “dunkle Kräfte” wirken. Es könnte “dunkle Atome” geben, deren Kerne von einer “dunklen Kernkraft” zusammengehalten werden und so wie die normale Materie über die elektromagentische Kraft miteinander wechselwirken kann, könnte das die dunkle Materie über eine entsprechende “dunkle” Kraft tun. Die Teilchen, die diese Kraft vermitteln, wären – analog zu den Photonen die den normalen Elektromagnetismus übertragen – eben die “dunklen Photonen”.
Soweit die Theorie. Die Praxis hat im Debrecener Labor stattgefunden, meint zumindest Krasznahorkay. Jonathan Fang und seine Kollegen sind anderer Meinung. Sie denken, dass die Daten besser zu etwas passen, dass sie “protophobic X boson” nennen. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, worum es sich dabei handelt. Den mir verständlichen Teilen der Forschungsarbeit von Fang und seinen Kollegen nach müsste das ein Teilchen sein, dass ebenfalls eine noch unbekannte Kraft vermittelt. Die Reichweite dieser Kraft ist aber enorm beschränkt und erstreckt sich nur über circa 12 Femtometer, also einer Strecke, die ein paar Atomkerndurchmessern entspricht. Ein dunkles Photon könnte mit Elektronen und Protonen in Wechselwirkung treten; das protophobische X-Boson mit Elektronen und Neutronen.
Ich bin sicher, wenn die theoretischen Physiker noch ein wenig länger nachdenken, fallen ihnen noch ein paar weitere Möglichkeiten für hypothetische Teilchen ein, mit denen sich die Daten erklären lassen. Falls sie überhaupt eine Erklärung benötigen. Krasznahorkay und seine Kollegen meinen zwar, dass sie die Versuche ausreichend oft wiederholt und alle möglichen Fehlerquellen ausgeschlossen haben. Der Effekt sei real und nicht durch reinen Zufall zu erklären. Aber solange das nirgendwo anders in vergleichbaren Experimenten bestätigt wird, hilft das nicht viel weiter.
Aber wenn da wirklich ein neues Teilchen ist das eine neue Fundamentalkraft vermittelt, wird es früher oder später gefunden werden. Fang und seine Kollegen erwähnen am Ende ihres Artikels eine Reihe von Experimenten, bei denen entsprechende Resultate erwartet werden könnten. Zum Beispiel das DarkLight-Experiment der Thomas Jefferson National Accelerator Facility in den USA. Aber natürlich auch an den Detektoren des CERN.
Die Teilchenphysik ist tückisch. Oft genug sieht man vielversprechende Signale, die sich am Ende doch als statistisches Rauschen erweisen. Vielleicht ist das auch in diesem Fall so. Vielleicht auch nicht. Irgendwo muss eine neue Physik zu finden sein. Warum nicht auch in Debrecen?
Update (09.06.2016): So wie es aussieht, könnte die “Entdeckung” vielleicht doch nur auf schlampige Wissenschaft zurückzuführen sein…
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