Die monatliche Buchbesprechung kommt zwar erst noch (und wie immer am Monatsende); ein Buch will ich aber schon vorher vorstellen – weil es mir wirklich gut gefallen hat und weil ich darüber schreiben will, solange ich den Inhalt noch frisch im Gedächtnis habe. Es heißt “Inferior: How Science Got Women Wrong – and the New Research That’s Rewriting the Story”* (noch nicht auf deutsch erhältlich), wurde von der britischen Wissenschaftsjournalistin Angela Saidi geschrieben und behandelt ein wirklich faszinierendes Thema.
Es geht darum um fundamentale Fragen, die die Menschheit vermutlich von Anfang an beschäftigt haben: Warum unterscheiden sich Männer und Frauen? Worin unterscheiden sie sich? Was sind die Ursachen für die Unterschiede? Diese Fragen haben nicht nur einen gesellschaftlichen und politischen Hintergrund, sondern vor allem auch einen wissenschaftlichen. Biologie, Psychologie, Neurologie, Chemie: Jede Menge Disziplinen haben sich in der Vergangenheit bemüht, Antworten auf diese Fragen zu finden. Aber, und genau das ist der Fokus von Sainis Buch, die Beschäftigung mit diesen Fragen ist bei weitem nicht immer objektiv erfolgt.
Das ist einerseits ein grundlegendes Problem jeder wissenschaftlichen Beschäftigung. Die wissenschaftliche Methode an sich ist zwar objektiv. Wir verwenden sie ja genau deswegen, um allgemeingültige, objektive und verlässliche Informationen über die Welt zu erhalten. Wissenschaft wird aber auch immer von Menschen betrieben und wir sind alles andere als objektiv. Wir leben (und denken!) immer im Kontext unserer Zeit und unserer Gesellschaft. Und in diesem Kontext interpretieren wir zwangsläufig auch all das, was uns die wissenschaftliche Methode an Erkenntnissen liefert. In diesem Kontext stellen wir vor allem auch die Fragen, die wir beantworten wollen und die Fragestellung definiert in gewissen Sinne auch schon ein wenig die Antworten, die wir bekommen können. Wir (und mit diesem “wir” sind sowohl die Wissenschaftler selbst gemeint als auch diejenigen, die über die Wissenschaft reden) dürfen uns nichts vormachen und so tun, als wäre die wissenschaftliche Methode alles was ist. Wir dürfen die Menschen nicht vergessen, die die Wissenschaft betreiben. Und die Irrtümer die entstehen, weil Menschen eben Menschen sind, auch wenn diese Menschen Wissenschaft betreiben.
Andererseits ist das Thema der Geschlechterunterschiede natürlich eines, das die Subjektivität gerade zu herausfordert. Hier gibt es einen über Jahrtausende gehegten Vorrat an Vorurteilen und Stereotypen, der selbstverständlich auch die Forschung dazu massiv beeinflusst. Genau davon handelt Sainis Buch und es tut das sehr umfassend. Saini beginnt ihre Geschichte mit Charles Darwin und der Revolution der Entdeckung der Evolution. Aber auch wenn Darwin uns gezeigt hat, wie wir die Biologie ohne die religiösen und gesellschaftlichen Vorurteile der (damaligen) Vergangenheit betrachten können, war er selbst natürlich auch untrennbar in seiner eigenen Zeit verhaftet. Sein Bild der Frau war geprägt vom viktorianischen Konsens und Kontext und der floss auch in seine biologischen Aussagen ein. Darwin war der Meinung, Frauen seinen weniger entwickelt als Männer; seien per Natur und Biologie den Männern nicht ebenbürtig und könnten das auch niemals sein (ich habe diese Geschichte hier ausführlich erzählt).
Mit Darwin begann die moderne Biologie – die Probleme bei der Erforschung der Geschlechterunterschiede begannen aber genau so erst richtig. Das fing schon damit an, dass Frauen in der Forschung oft gar nicht vorkamen. Nicht nur nicht als Forscherinnen, sondern auch nicht als Forschungsgegenstand. Frauen waren kein Teil von Studien; Krankheiten die Frauen betroffen wurden nicht so ernsthaft erforscht wie die, die Männer oder beide Geschlechter gleichermaßen betreffen.
Angela Saini interviewt in ihrem Buch jede Menge Forscherinnen und Forscher die sich in den letzten Jahrzehnten mit diesem Thema beschäftigt haben. Sie zitiert jede Menge wissenschaftliche Arbeiten. Und weist immer wieder auf das grundlegende Problem hin: Der Einfluss gesellschaftlicher Vorstellungen und Vorurteile bestimmt den Weg der Forschung, die Ergebnisse und die Interpretation der Ergebnisse. Unsere Welt ist voll mit Stereotypen, die Grundlage für Forschung sind und (scheinbar) von den Ergebnissen der Forschung bestätigt werden.
Saini dröselt diese Zirkelschlüsse in ihrem Buch sehr informativ und gut verständlich auf. Zum Beispiel die Geschichte mit den Unterschieden in den Verknüpfungen im männlichen/weiblichen Gehirn und der Forschung, die belegen soll, dass Frauen und Männer unterschiedlich denken, weil ihre Gehirne buchstäblich unterschiedlich funktionieren. Darin geht es um Forschung, die schon mit Vorurteilen beginnt und mit selektiver Wahrnehmung weiter geht. Auf Wissenschaftsjournalismus, der bestehende Stereotype in Forschungsergebnisse hinein interpretiert, die gar nicht drin stecken (und auch auf Wissenschaftler, die das tun). Auf schlechte Forschung, auf nicht-reproduzierbare Forschung und auf nicht-reproduzierte Forschung, die (auch wenn die wissenschaftliche Methode eigentlich anderes vorsehen würde), weiterhin als gültig betrachtet wird.
Sehr interessant sind auch die vielen Anthropologen und Anthropologinnen die Saini interviewt. Durch die Beobachtung von Menschen in Südamerika oder Asien, deren Gesellschaft noch weitestgehend von der modernen Zivilisation unbeeinflusst waren, hatte man ja sehr oft versucht zu erforschen, wie wir Menschen früher gelebt haben. Und je nachdem, wer diese Forschung durchgeführt hat und in welchem gesellschaftlichen Kontext die Ergebnisse interpretiert werden, unterscheiden sie sich. Selbst wenn die gleiche Menschengruppe untersucht wurde. Hier sieht man den Einfluss der selektiven Wahrnehmung ganz besonders gut: Wer vorher schon überzeugt ist, dass sich z.B. Männer und Frauen unterschiedlich entwickelt haben, weil Männer früher für die Jagd zuständig waren und Frauen fürs Sammeln und die Kindererziehung, der fand bei der Beobachtung auch jede Menge Belege, die genau das unterstützen. Und übersah all die anderen Belege, die dagegen sprachen – aber definitiv vorhanden waren.
Es ist eine schwierige Aufgabe, an der Forscherinnen und Forscher seit langem arbeiten: Welche der Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind tatsächlich real? Welche davon sind nur das Resultat von Vorurteilen? Welchen Einfluss hat die Biologie und welchen Einfluss hat die Gesellschaft? Welche realen Auswirkungen haben die vorhandenen Unterschiede zwischen den Geschlechtern und welche entstanden nur durch gesellschaftliche Stereotype? Es ist auch eine schwierige Aufgabe, all das in einem gut lesbaren Buch verständlich zu erklären. Aber Saini hat genau das geschafft (und ihr Buch wurde auch als Physics World: Book of the Year 2017 ausgezeichnet).
Ich kann “Inferior” nur sehr empfehlen. Es ist einerseits ein enorm interessantes Buch, weil man sehr viel über Biologie, Psychologie, Neurologie, etc lernt. Es ist aber ebenso interessant, wenn es darum geht, die Prozesse in der Wissenschaft selbst zu verstehen. Und die sehr wichtige Tatsache, dass man auch Wissenschaft immer hinterfragen muss. Solange Wissenschaft weiterhin von Menschen betrieben wird, wird unsere Menschlichkeit mit all ihren Vorurteilen immer Teil davon sein.
Eine kurze Anmerkung noch zum Schluss: Es geht in diesem Buch definitiv nicht um Gender-Mainstreaming und all das, was darüber (zu Recht oder Unrecht) behauptet und kritisiert wird. Es geht nicht darum, ob man ein Binnen-I verwenden soll oder man “peoplekind” statt “mankind” sagen soll. Es geht nicht um Frauenquoten, um angebliche “Unterdrückung” der Männer durch “militante Feministinnen”, und so weiter. Es geht um Wissenschaft und die Frage, wie die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung einerseits die Gesellschaft formen und andererseits von der Gesellschaft geformt werden. Es ist ein wichtiges Thema – und ein sehr gutes Buch.
(Und auch wenn es vermutlich nichts bringt: Ich würde mich freuen, wenn sich die Diskussion im Kommentarbereich ebenfalls auf die Wissenschaft zu diesem Thema bezieht und nicht in die unsägliche Unsinnsorgie abgleitet, die man überall dort beobachten kann, wo im Internet über Geschlecht, Gender und Biologie diskutiert wird).
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