“ganzheitlich” ist generell ein doofes Wort. Ein Wort, das viel zu oft etwas vorspiegelt, was nicht gehalten werden kann. Aber wenn man es schon verwendet, dann sollte es viel öfter in der Naturwissenschaft verwendet werden. Es wäre längst an der Zeit, dass die Wissenschaft sich dieses Wort von der Esoterik zurück holt. Denn wenn es etwas gibt, das wirklich ganzheitlich ist, dann ist es die Naturwissenschaft!
“ganzheitlich” ist ja vor allem gerne die “Alternativmedizin”. Aber abgesehen davon, dass die “Alternativmedizin” eigentlich eine Pseudomedizin ist, ist sie definitiv auch nicht “ganzheitlich”. Sie ist bei genauerer Betrachtung das Gegenteil davon. Die “ganzheitliche” “Behandlung” (ich seh schon, das wird wieder ein Artikel mit jeder Menge Anführungszeichen…) die man bei Homöopathen & Co erhält, behauptet ja von sich gerne, hier würde der “ganze Mensch” betrachtet; im Gegensatz zur “Schulmedizin” wo man ja nur die Symptome behandelt. Aber seltsamerweise sind der “ganzheitlichen Alternativmedizin” all die Verbindungen im menschlichen Körper komplett egal. Das Zusammenspiel der Organe, das Wirken von Hormonen, die gesamte Biochemie, und so weiter: All das schert die “Alternativmedizin” wenig. Der Körper ist eine Blackbox: Man fragt die Symptome ab und am Ende kriegt man ein paar Globuli (o.ä. Placebos). Man könnte fast meinen, das hier nur Symptome behandelt werden…
Mit “ganzheitlich” wird in der “Alternativmedizin” vermutlich die Tatsache gemeint, dass man dort viel Wert auf lange und persönliche Gespräche legt bei denen das Umfeld, die Psyche und das Privatleben der Kundschaft thematisiert wird. Und man sollte nicht ignorieren, dass die “Alternativmedizin” in dieser Hinsicht tatsächlich ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal hat, das der Medizin fehlt. Was aber weniger an der Medizin selbst sondern mehr an der Gesundheitspolitik liegt, die es Ärztinnen und Ärzten kaum mehr ermöglicht, ausreichend viel Zeit mit ihren Patienten zu verbringen um sie nicht nur als kranke Körper sondern auch als kranke Menschen wahrzunehmen.
“ganzheitlich” ist also ein ziemlich genialer PR-Trick der Esoterik, bei der einem Wort eine Bedeutung gegeben wurde, die etwas suggeriert, das nicht vorhanden ist. Denn wenn etwas wahrhaftig ganzheitlich ist, dann ist das die Naturwissenschaft. “ganzheitlich” hängt dort mit einem anderen fundamentalen Konzept zusammen: Der Frage “Was folgt daraus?” Diese Frage steht im Zentrum der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und sie wird von der Esoterik und der Pseudowissenschaft im Allgemeinen komplett ignoriert.
Ein Beispiel: Regelmäßig landen in meinem Emailpostfach Nachrichten von Leuten, die die Relativitätstheorie widerlegt haben wollen. Oder die meinen die Quantengravitation entdeckt zu haben. Mir schreiben Leute, die herausgefunden haben wollen, dass der Klimawandel nur eine Erfindung ist oder mir erklären, sie hätten eine Formel entdeckt mit der sich Lichtgeschwindigkeit und Gravitationskonstante aus der Zahl Pi ableiten lassen. Die Frage, die sich dann aber seltsamerweise niemand stellt, ist die, um die es geht: “Was folgt daraus?”
Noch ein Beispiel: Nehmen wir an, jemand behauptet, die Sonne wäre in Wahrheit nicht die große Kugel aus heißem Gas die sie ist, sondern bestünde aus glühendem, flüssigen Metall (was manche Menschen tatsächlich tun). Mit so einer Behauptung kann man jede Menge Spaß haben. Man kann sich wunderbar über all die Wissenschaftler aufregen, die die “Wahrheit” nicht wahrhaben wollen unter weiter den Dogmen der Schulphysik folgen. Man kann sich als Märtyrer fühlen, der unterdrückt wird und unter dem Establishment zu leiden hat. Und so weiter (man kann das alles aktuell und live immer dort beobachten, wo Menschen sich als Anhänger einer flachen Erde outen). Aber die Frage um die es eigentlich geht, lautet: “Was folgt daraus?”
Was folgt, wenn die Sonne tatsächlich eine glühende Metallkugel wäre und keine Sphäre aus Plasma? Was folgt, sind jede Menge Fragen, die auf einmal einer Antwort bedürfen. Zum Beispiel: Wie werden die solaren Neutrinos erzeugt, die unsere Neutrinoteleskope auffangen, wenn im Inneren der Sonne keine Kernfusion stattfindet? Wie entstehen Sonnenflecken und Protuberanzen, wenn es im Inneren der Sonne keine Ströme aus magnetischen Plasma gibt? Wo kommen die Spektrallinien im Sonnenlicht her, wenn nicht durch die Interaktion der Sonnenstrahlung mit den gasförmigen Elementen in ihrem Inneren? Auf all diese Fragen haben wir derzeit Antworten und sie alle passen wunderbar zusammen und zu dem Bild, dass die Sonne eine Kugel aus Plasma ist, die durch die Kernfusion in ihrem Inneren aufgeheizt wird. Eine alternative Erklärung zur Natur der Sonne muss all diese Fragen ebenso beantworten können. Da hört es aber noch lange nicht auf!
Sind die anderen Sterne am Himmel dann ebenfalls nur Metallkugeln? (Und wenn nein, warum nicht?) Wie sind die alle entstanden? Wo kommt das ganze Metall her? Wie sind die chemischen Elemente entstanden? Momentan haben wir eine kosmologische Standardtheorie, die uns sagt, das nach dem Urknall nur Wasserstoff und Helium vorhanden waren, aus dem die ersten Sterne entstanden die wiederum in ihrem Inneren durch Kernfusion die restlichen chemischen Elemente erzeugt haben. Für diese Theorie gibt es eine Vielzahl an Vorhersagen, die alle durch Beobachtungen bestätigt worden sind. All das muss eine neue Theorie ebenfalls leisten: Wer behauptet, die Sterne wären Metallkugel, muss also gleichzeitig auch neue Theorien zum Urknall, zur Entwicklung des Universums und zur Nukleosynthese der chemischen Elemente liefern. Unsere aktuellen Theorien zur Entstehung des Universums hängen aber untrennbar mit unseren Theorien zur Teilchenphysik zusammen. Wer die gasförmige Natur der Sonne anzweifelt, muss auch ein komplett neues Modell der Teilchenphysik entwerfen. Ein Modell, das mindestens so mächtig ist, die während all der vergangenen Jahrzehnte gesammelten Beobachtungen in Teilchenbeschleunigern zu erklären, wie es die derzeitigen Theorien sind.
Und so weiter: Am Ende wirft man mit einer Behauptung wie “Die Sonne ist eine Kugel aus Metall” die gesamte moderne Naturwissenschaft über den Haufen. Das ist prinzipiell noch nicht einmal verwerflich. Solche massiven Paradigmenwechsel kann es geben. Aber wenn es sie gibt, dann nur dann, wenn eben auch alles entsprechend neu (und besser als vorher) formuliert worden ist. Es reicht nicht, sich nur ein Ding rauszugreifen, das man doof findet und zu sagen: “Es ist eigentlich ganz anders!”. Macht man das, dann ignoriert die man Ganzheitlichkeit der Naturwissenschaft!
Denn es gibt eben nur ein Universum. Und in dem hängt eben alles miteinander zusammen. Das ist genau die Aussage, die man von Esoterikern so gerne hört – die sie in ihrer speziellen Realität aber immer wieder ignorieren. Denn weil eben im echten Universum alles zusammen hängt, muss sich auch immer die Frage stellen “Was folgt daraus?”. Alles was ich oben über die Natur der Sonne geschrieben habe, gilt genau so in anderen Fällen. Wer behauptet, man könne “Informationen” von chemischen Stoffen in Wasser speichern, durch Schütteln “verstärken” und diese “Information” dann irgendwie auf Zuckerkugeln übertragen, die sie ebenso irgendwie in den menschlichen Körper vermitteln um dort Krankheiten zu heilen, kann das gerne tun. Muss dann aber auch die Frage “Was folgt daraus?” in ihrer gewaltigen Ganzheitlichkeit beantworten! Würde der vorhin beschriebene homöopathische Mechanismus tatsächlich existieren, dann folgt daraus nicht nur eine völlig neue Physik. Er widerspricht auch direkt den Erkenntnissen und Beobachtungen der aktuellen Physik! Wer die Homöopathie ernsthaft vertreten will, muss dann ebenso ernsthaft Antworten auf all die Fragen finden, die die Physik derzeit zufriedenstellend beantwortet. Das eine geht nicht ohne das andere. Denn die Naturwissenschaft ist ganzheitlich! Man kann sich nicht einen Aspekt heraus greifen, ihn negieren und all die abgeschnittenen Verbindungen und Zusammenhänge ignorieren!
Dass es trotzdem so oft passiert, liegt unter anderem daran, dass diese Verbindungen und Zusammenhänge viel zu selten vermittelt werden. Wissenschaft besteht nicht (nur) aus den “Forscher haben herausgefunden!”-Schlagzeilen in den Medien. Wissenschaft besteht aus Beobachtungen, Hypothesen und der immer wieder gestellten Frage “Was folgt daraus?”. Manchmal stellt sich heraus, dass das, was daraus folgt, dem Status Quo widerspricht. Das kann dann ein Zeichen dafür sein, dass man falsch liegt und sehr oft ist es das auch. Manchmal entdeckt man so aber auch, dass der Status Quo nicht ganz korrekt ist und eine neue, bessere Erklärung benötigt. So funktioniert wissenschaftlicher Fortschritt. Natürlich muss man nicht immer das gesamte Gebäude der Wissenschaft aufdröseln. Als Astronom muss ich mir nicht immer und überall Gedanken über die Auswirkung meiner Forschung auf die Materialphysik, die Chemie oder die Genetik machen. Was draußen im Universum passiert hat nicht immer Auswirkungen auf das, was im Inneren der Zellen der Lebewesen auf der Erde passiert. Aber manchmal schon; weil die Naturwissenschaft ganzheitlich ist – und das darf man nie ignorieren. Und ab und zu lautet die Antwort auf “Was folgt daraus?” tatsächlich: “So gut wie alles, was wir bisher gedacht haben, ist falsch und wir brauchen eine andere Erklärung!” (Die Entwicklung der Quantenmechanik war so ein Fall).
Wenn etwas tatsächlich ganzheitlich ist, dann die Naturwissenschaft. Und wenn etwas ganz sicher nicht ganzheitlich ist, dann das ganze Zeug, das momentan so gerne und so oft von sich behauptet, es zu sein. Man kann das Wort “ganzheitlich” weder abschaffen noch verbieten. Aber man kann sich darum bemühen, es dort zu verwenden, wo es zutreffend ist: In der Naturwissenschaft. Ihre Ganzheitlichkeit ist nicht nur real, sondern auch eines der Dinge, die die Wissenschaft so enorm faszinierend macht. Darüber ein wenig öfter zu sprechen als bisher ist sicher keine schlechte Idee.
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