Das Standardmodell der Teilchenphysik ist eine der erfolgreichsten wissenschaftlichen Theorien aller Zeiten. Die daraus abgeleiteten Vorhersagen sind mit einer extrem Genauigkeit immer und immer wieder bestätigt worden. Aber die Neutrinos machen Probleme! Diese überall vorhandenen aber kaum zu beobachtenden Elementarteilchen stellen weiterhin eines der großen Rätsel der Naturwissenschaft dar. Und jetzt ist die Sache noch ein Stück rätselhafter geworden. Denn ein schon so gut wie zu den Akten gelegtes Konzept ist plötzlich wieder zurück: die sterilen Neutrinos.
Neutrinos sind Elementarteilchen. Ihre Existenz wurde 1930 aus theoretischen Gründen vorhergesagt und es mehr als 20 Jahre gedauert, bis man sie auch im Experiment nachweisen konnte. Das liegt daran, dass Neutrinos so gut wie gar nicht mit dem Rest der Materie interagieren. Es gibt vier fundamentale Kräfte, die – soweit wir bis jetzt wissen – alles im Universum regeln. Das sind die Gravitation, der Elektromagnetismus und die starke und die schwache Kernkraft. Die beiden ersteren kennen wir aus dem Alltag, die beiden letzteren wirken nur zwischen den Bestandteilen der Atome selbst. Neutrinos spüren Gravitation, aber keinen Elektromagnetismus. Sie treten nur über die schwache Kernkraft mit anderen Teilchen in Kontakt. Da sie nicht elektromagnetisch wechselwirken, sind sie quasi unsichtbar. Und da die normale Materie elektromagnetisch wechselwirkt, können wir die Neutrinos auch nicht spüren. Die Atome der normalen Materie durchdringen einander deswegen nicht, weil die zwischen ihnen wirkende elektromagnetische Kraft dafür sorgt. Wenn ich zum Beispiel gerade mit meinen Fingern die Tasten auf meinem Computer spüre, dann spüre ich genaugenommen die elektromagnetische Abstoßung zwischen den Atomen meiner Fingerspitzen und denen der Computertastatur. Neutrinos spüren all das nicht. Für sie ist normale Materie so gut wie nicht vorhanden. Die Billionen Neutrinos die jede Sekunde von der Sonne erzeugt werden und auf die Erde treffen, sausen einfach durch sie hindurch, so als ob sie nicht da wäre. Nur ganz selten kommt es zu einer Interaktion über die schwache Kernkraft.
Das macht die Neutrinos auch so schwer zu messen. Aber man kann sie messen und das hat man in den letzten Jahrzehnten ausführlich getan. Deswegen weiß man heute auch, dass es drei verschiedene Arten von Neutrinos gibt, die sich ineinander umwandeln können. Die Geschichte dieser besonders für die Astronomie sehr interessanten Eigenschaften habe ich hier ausführlich erzählt. Die Umwandlung zwischen den drei verschiedenen Neutrinoarten war nicht nur eine wirklich wichtige Entdeckung. Es bedeutet vor allem auch, dass die Neutrinos eine Masse haben müssen.
Und das war ein Problem. Das ist ein Problem. Beziehungsweise ist es natürlich kein Problem. Die Natur ist so wie sie ist. Das Problem ist die Tatsache, das wir nicht wissen, warum Neutrinos eine Masse haben. Denn das Standardmodell der Teilchenphysik (das ich hier ausführlicher erklärt habe) kennt Neutrinos nur als masselose Teilchen. Laut einer der erfolgreichsten Theorien der Naturwissenschaft sollten Neutrinos keine Masse haben. Die Realität zeigt aber das Gegenteil. Und mit der Realität kann man nicht streiten. Die Masse der Neutrinos bedeutet, dass da irgendwo noch Physik existiert, die wir noch nicht entdeckt und verstanden haben. Das Standardmodell ist unvollständig.
Und die Neutrinos weiterhin rätselhaft. Zum Beispiel was die “Chiralität” angeht. Die Chiralität ist eine dieser quantenmechanischen Eigenschaften, die so klingen wie etwas das man sich vorstellen kann, aber trotzdem anschaulich nicht vorstellbar sind. In der Chemie beschreibt Chiralität die “Händigkeit” von Molekülen; es gibt “rechtshändige” und “linkshändige” Moleküle wobei das eine das räumliche Spiegelbild des anderen ist. In der Physik hat man Teilchen eine Eigenschaft mit gleichem Namen zugeteilt. Die hat aber nichts mit Spiegelbildern zu tun sondern mit etwas, für das keine anschauliche Entsprechung existiert, nämlich der “Zerlegung von Dirac-Spinoren in orthogonale Zustände, die unter Paritätsoperationen ineinander übergehen” (wie Wikipedia informiert, falls jemand was damit anfangen können sollte). Was auch immer man sich unter dieser Eigenschaft vorstellen will: Man hat bis jetzt immer nur linkshändige Neutrinos beobachtet (und immer nur rechtshändige Antineutrinos). Das wäre ok, wenn Neutrinos keine Masse haben. Denn dann würden für sie spezielle Erhaltungssätze gelten, aus denen folgt, dass das genau so sein muss. Jetzt haben Neutrinos aber eben eine Masse. Und die Erhaltungssätze gelten nicht. Es dürfte nichts geben, was Neutrinos daran hindert, auch mal rechtshändig zu sein (und umgekehrt für die Antineutrinos).
Deswegen hat man die Existenz einer vierten Neutrinoart vorhergesagt: Ein rechtshändiges Neutrino. Das würde dann, abgesehen von der Gravitation, überhaupt keine Kräfte mehr spüren. Man hat es “steriles Neutrino” genannt und danach gesucht. Nur: Wie sucht man nach etwas, das mit normaler Materie gar nicht mehr interagiert? Direkt kann man so ein steriles Neutrino nicht finden. Jedes Messgerät wäre für diese Dinger unsichtbar. Aber man kann das messen, von dem man weiß, das es da ist und schauen, ob man dann alles misst, was man messen sollte. Als man damals entdeckte, dass es drei Neutrinoarten gibt, lief das quasi genau so. Man hatte ein Messgerät, das in der Lage war, eine Art von Neutrinos zu messen (die eine, von der man damals wusste). Man hat aber nur 1/3 der Neutrinomenge gemessen, die man erwartet hatte. So war klar, dass da irgendwas nicht stimmt und mit verbesserten Detektoren konnte man dann die anderen beiden Arten finden.
Wenn man jetzt also Neutrinos misst, dann kann schauen, ob es auch hier Hinweise gibt, dass da noch was fehlt. Solche Hinweise auf eine vierte Neutrinoart hat man Ende der 1990er Jahre am Liquid Scintillator Neutrino Detector (LSND). Die Ergebnisse dort waren aber mit mehr oder weniger allen anderen entsprechenden Experimenten über die Eigenschaften von Neutrinos inkompatibel. Entweder LSND hat falsch gemessen – oder alle anderen. Es war plausibel anzunehmen, dass diese eine Experiment irgendwo irgendwas falsch gemacht hat. Und deswegen hat man das auch angenommen. Kürzlich hat man aber Daten vom MiniBooNE-Experiment am amerikanischen Fermilab veröffentlich (“Observation of a Significant Excess of Electron-Like Events in the MiniBooNE Short-Baseline Neutrino Experiment”). MiniBooNE bestätigt das, was LSND vor fast 20 Jahren gemessen hat. Zusammengenommen sind die Abweichungen von der Theorie nun sehr signifikant und liegen bei einem Wert von 6,1 Standardabweichungen. Was so eine Zahl im Detail bedeutet, habe ich hier erklärt, für diesen Fall bedeutet das: Man kann die LSND-Ergebnisse nicht mehr einfach ignorieren und als Messfehler abschreiben. Es existiert ein großer Konflikt zwischen jeder Menge sehr guter Experimente. Die einen finden keine Hinweise auf eine vierte Neutrinoart, die anderen schon.
Die Ergebnisse von MiniBooNE legen nahe, dass sich eine bestimmte Art von Neutrinos (die Myon-Neutrinos) ab und zu in ein steriles Neutrino umwandeln, dass dann zu einem Elektron-Neutrino wird. Und man deswegen sehr viel mehr dieser Elektron-Neutrinos misst, als man erwartet hatte. Aber da sind eben noch die ganzen anderen Experimente, die diesen Effekt ebenso eindeutig nicht gesehen haben. Irgendwas ist hier komisch. Die Wiederbelebung und Bestätigung der alten LSND-Anomalie ist ein mehr als deutliches Zeichen dafür, dass sich hier tatsächlich neue Physik versteckt, die wir noch verstehen müssen. Die Neutrinos treiben irgendwas, das in unseren bisherigen Theorien zum Verhalten von Elementarteilchen weder vorgesehen ist, noch beschrieben werden kann. Mehr als je braucht es neue Erklärungen und eine Erweiterung des Standardmodells! Und es braucht mehr Experimente. Wenn wir rauskriegen würden, warum bestimmte Detektoren anscheinend sterile Neutrinos messen und andere nicht, dann wären wir schon einen ganzen Schritt weiter. So oder so: Am Ende wird das Rätsel gelöst werden. Und wir haben dann hoffentlich etwas wirklich cooles und neues über das Universum gelernt.
P.S. Wer einen netten wissenschaftsbasierten Thriller lesen will, in dem sterile Neutrinos eine Rolle spielen, dem empfehle ich “Final Theory” (auf deutsch: “Die Würfel Gottes”)* von Mark Alpert (hab ich hier mal besprochen)
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