“Zeug das es vielleicht nicht gibt und das keinen Einfluss auf uns hat, wenn es das geben sollte, bewegt sich eventuell und dann so gut wie unbemerkbar durchs Sonnensystem!”
Ok. Das ist keine wirklich dramatische Schlagzeile. Aber deutlich näher an der wissenschaftlichen Realität als das, was dem Online-Magazin Futurezone nun schon den zweiten Eintrag in meiner Serie “Schlechte Schlagzeilen” gesichert hat (haben die da seit neuestem Redakteure aus dem Boulevard engagiert?). In der deutschen Ausgabe erschien gestern dort ein Artikel mit der Überschrift “Ein Hurrikan aus Dunkler Materie steuert direkt auf die Erde zu” (WebCite). Auf der österreichischen Seite titelt man dagegen: “‘Dunkler Materiesturm’ trifft die Erde” (WebCite).
Ein “Hurrikan”! Und er kommt “direkt” auf die Erde zu!! Nicht nur das: Er “trifft” uns auch noch!!! Klingt bedrohlich. Was wirklich passiert kann man im wissenschaftlichen Fachartikel nachlesen auf dem das alles basiert (“A Dark Matter Hurricane: Measuring the S1 Stream with Dark Matter Detectors”). Hier die Kurzversion:
- Es geht um dunkle Materie. Wir wissen nicht, um welche Art von Materie es sich dabei genau handelt und auch nicht sicher, ob es diese Art der Materie wirklich gibt. Aber wir haben seit mehr als 100 Jahren viele sehr gute Gründe von ihrer Existenz auszugehen.
- Dunkle Materie (im folgenden gehen wir mal davon aus, das es sie gibt) befindet sich überall im Universum; sie bildet gigantische Wolken in der Zentren sich normale Materie angesammelt und dort die sichtbaren Galaxien gebildet hat. Jede Galaxie – etwa unsere Milchstraße – befindet sich also in so einer Wolke bzw. ist von so einer Wolke aus dunkler Materie umgeben.
- Galaxien können miteinander kollidieren. So ein Prozess dauert ein paar hundert Millionen Jahre und die Galaxien werden bei so einer Kollision massiv verformt und verschmelzen am Ende miteinander. Eine große Galaxie kann dabei eine kleinere Zwerggalaxie auch regelrecht “verschlucken”.
- Unsere Milchstraße hat in der Vergangenheit jede Menge kleine Galaxien verschluckt. Was dabei übrig bleibt sind “Sternströme”, also große Gruppen von Sternen die sich alle gemeinsam in die gleiche Richtung umgeben und quasi eine Art “Sternenfluss” bilden der sich durch die Milchstraße windet.
- Ein solcher Sternstrom wird dann auch von einem Strom aus dunkler Materie begleitet.
- Im aktuellen Fall haben Wissenschaftler den Sternstrom “S1” untersucht. Der bewegt sich recht schnell und die Forscher haben seine Bewegung und die der mit ihm verbundenen dunklen Materie am Computer simuliert.
- Das ist knifflig, weil man die dunkle Materie ja nicht direkt beobachten kann. Deswegen probiert man aus den beobachtbaren Sternen des Sternstroms die Größe und Masse der ursprünglichen Zwerggalaxie zu rekonstruieren aus der er entstanden ist. Und rekonstruiert dann daraus, wie viel dunkle Materie in dieser Galaxie ist und wie viel im Sternstrom noch übrig blieb.
- Momentan besteht S1 aus ungefähr 30.000 Sternen und bewegt sich auf einer ähnlichen Bahn durch die Milchstraße wie auch unser Sonnensystem. Das Sonnensystem tut das allerdings mit knapp 240 Kilometer pro Sekunde, während die dunkle Materie von S1 es laut den Ergebnissen des Computermodells mit etwa 500 Kilometer pro Sekunde tut.
- Unser Sonnensystem wird also von einem schnellen “Wind” aus dunkler Materie durchweht. Von dem kriegen wir allerdings nichts mit, weil dunkle Materie eben kaum nachweisbar ist.
- Wenn die dunkle Materie aus sogenannten WIMPs besteht, dann haben die aktuellen Detektoren kaum eine Chance diese schnellen Teilchen des S1-Stroms zu detektieren. Bestehen sie dagegen aus sogenannten “Axonen”, dann eventuell schon.
So weit die durchaus sehr interessante Forschung. Die Eigenschaften von Sternströmen zu benutzen um mehr über dunkle Materie zu erfahren ist keine neue Idee; ich habe früher schon mal darüber geschrieben: (hier und hier. Neu ist in dem Fall der Nachweis des Sternstroms S1 (den hat man erst kürzlich entdeckt) und seine hohe Geschwindigkeit. Und normalerweise hätte das vermutlich auch niemand als Anlass für hysterische Schlagzeilen genommen. In dem Fall findet man sie aber überall und das liegt vermutlich an der eher unglücklichen Wortwahl der Astronomen. Am Ende ihres Artikels schreiben sie:
“The S1 stream, recently discovered in the SDSS-Gaia dataset, hits the Solar system almost head-on in a low inclination, counter rotating orbit. The DM particles associated with S1 have a much larger velocity in the laboratory frame compared with the DM particles from the rest of the halo. The S1 stream is more akin to a DM hurricane than merely a wind.”
Weil die dunkle Materie sich in dem Fall so schnell bewegt, hat man ihre Bewegung nicht als “Wind” sondern als “Hurrikane” bezeichnet. Und dieses Wort auch gleich in den Titel der Arbeit übernommen: “A Dark Matter Hurricane: Measuring the S1 Stream with Dark Matter Detectors”. Und mehr braucht es in der hyperaktiven Medienwelt dann auch nicht mehr. Ein “Hurrikan” und noch dazu mysteriöse “dunkle Materie” – und schon wird aus einem Aufsatz der sich mit der Sensitivität von Teilchendetektoren beschäftigt eine apokalyptisch angehauchte Katastrophenvorhersage.
Denn es ist zum einem erstmal gar nicht so, wie es die Schlagzeilen der Futurezone & Co nahe legen: Da “steuert” nix auf die Erde zu; da “trifft” nichts “direkt” auf die Erde. Man behauptet ja auch nicht: “Nordsee steuert direkt auf Sylt zu!” Die Nordsee umfließt die Insel Sylt. Das ist kein singuläres Ereignis, sondern etwas, das dauernd passiert. Genau so wie die dunkle Materie von S1 halt dauernd durchs Sonnensystem weht. Und ums Sonnensystem herum. Da draußen sitzt niemand mit ner Dunklen-Materie-Kanone und hat die Erde im Fadenkreuz! Unser gesamtes Sonnensystem befindet sich halt in der Gegend durch die sich auch S1 bewegt. Das war schon so, bevor es herausgefunden haben und es wird auch danach der Fall sein. “Hurrikan” ist ein unglückliches Wort, weil man darunter das versteht, was man aus dem Wetterbericht kennt. Etwas, das bevorsteht, das passiert (dabei oft katastrophal ist) und dann wieder vorbei. So ein Sternstrom ist aber nichts was eben mal kurz passiert und dann vorbei ist. Die dunkle Materie ist schon durchs Sonnensystem geströmt, lange bevor wir darauf gekommen sind, so was wie “Astronomie” zu betreiben und sie wird das auch in ferner Zukunft noch tun. Und sie tut das auch ganz unabhängig von S1 – Dunkle Materie, wenn sie da ist, ist überall. Egal ob Sternstrom oder nicht – das Zeug fliegt ständig durchs Sonnensystem durch. Der Rest nur halt vermutlich nicht so schnell wie das Zeug von S1.
Und vor allem: Im Gegensatz zum starken Wind eines Hurrikans der jede Menge Schaden auf der Erde anrichten kann, ist dunkle Materie komplett harmlos. Sie wechselwirkt so gut wie gar nicht mit dem Rest der normalen Materie, also der Materie aus dem die Erde und wir Menschen bestehen. Genau deswegen ist es ja so schwierig, ihre Existenz nachzuweisen!
Um zu beschreiben, wie sich die schnelle dunkle Materie aus S1 von der “Hintergrund-Dunklen-Materie” unterscheidet, die durchs Sonnensystem fliegt ist “Hurrikane” tatsächlich ein brauchbarer Vergleich und es ist durchaus ok, wenn man so was in einem Fachartikel verwendet. Aber man muss damit rechnen, dass die Öffentlichkeit und die Medien so ein Wort aufgreifen und absichtlich oder unabsichtlich falsch verstehen. Besonders dann, wenn die Herausgeber der Fachzeitschrift diese Arbeit und dieses Wort noch einmal prominent hervor heben.
Fazit: Es wird, was die dunkle Materie angeht, im Sonnensystem nichts passieren, was derzeit nicht sowieso schon dauernd passiert. Und das was passiert, ist nicht nur für uns ungefährlich sondern passiert vielleicht gar nicht (weil wir immer noch nicht wissen, wie das mit der dunklen Materie genau ist). Wenn man wollte, könnte man das mit: “Gehen sie bitte weiter, hier ist nichts passiert, es gibt hier nichts zu sehen!” zusammenfassen. Oder man recherchiert halt ordentlich und schreibt nen guten Artikel über astronomische Forschung…
Mehr schlechte Schlagzeilen gibt es hier.
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