Heute vor genau fünf Jahren ist der erste Text in meiner Kolumne Freistetters Formelwelt erschienen. Am 5. Juni 2016 habe ich über “Ein Symbol für Raum und Zeit” geschrieben und über meine Erfahrungen berichtet, die ich während meines Studiums in der Vorlesung “Einführung in die Tensorrechnung” berichtet. Seitdem ist jeden Sonntag ein weiterer Artikel erschienen; jeden Monat kann man die Kolumne auch in der gedruckten Ausgabe von “Spektrum der Wissenschaft” finden. 260 Texte über mathematische Formeln habe ich bis jetzt geschrieben und das Material macht keine Anstalten, zur Neige zu gehen.
Im Zentrum jeder Kolumne steht eine konkrete mathematische Formel. Aber nicht immer erkläre ich die auch Zahl für Zahl, Symbol für Symbol. Mir geht es nicht so sehr darum zu erklären, wie man konkret irgendwas berechnet. Ich will die Vielfalt der Mathematik demonstrieren und ihre einzigartige Bedeutung für unser Leben. Entsprechend divers ist die Themenauswahl in meiner Kolumne. Da geht es durchaus oft um reine Mathematik. Aber eben auch um Fußball, Liebe, das alte Ägypten, natürlich die Astronomie, komische Posts in sozialen Medien, Mathe-Missbrauch, Essen, Blumen, Religion, Literatur oder Fake-News. Und natürlich noch viel, viel mehr.
Im Titel habe ich vom “Kampf gegen die Angst vor der Mathematik” geschrieben, was ein wenig übertrieben klingen mag. Aber für viele Menschen, vor allem für Schülerinnen und Schüler, ist die Auseinandersetzung mit der Mathematik tatsächlich ein “Kampf”. Die Mathematik gilt in der Schule als “Angstfach” und in der Gesellschaft als kompliziert, langweilig oder trocken. Und es ist definitiv nicht neu, dass man sich fragt, was dagegen unternommen werden kann. Meine Kolumne ist vermutlich nicht geeignet, den Menschen die unbegründete Angst vor der Mathematik zu nehmen. Dort wo sie erscheint, wird sie vor allem Menschen gelesen, die der Wissenschaft und auch der Mathematik prinzipiell positiv gegenüber stehen. Die anderen werden vermutlich gar nicht erst auf den Seiten eines Wissenschaftsmagazins in der Mathe-Rubrik stöbern.
Genau das ist wahrscheinlich auch das große Problem, wenn es darum geht, die Mathematik zu vermitteln. Wenn ich über Astronomie schreibe (oder in meinem Podcast davon erzähle), dann habe ich einen großen Vorteil. Vor den Sternen haben die Menschen meistens keine Angst. Im Gegenteil: Die Astronomie ist ein wunderbares Mittel, um Menschen auf die Wissenschaft aufmerksam zu machen, die noch gar nicht wissen, dass sie sich dafür interessieren. Wenn man von fernen Galaxien, von schwarzen Löchern, von fremden Planeten, und so weiter erzählt, dann erreicht man oft auch die, die eher skeptisch sind, ob sie sich auf die Wissenschaft einlassen sollen. Fange ich dagegen mit Mathematik an, dann sperren sich schnell auch diejenigen dagegen, die eigentlich ein Grundinteresse an der Wissenschaft haben. Diese Vorurteile zu überkommen, ist verdammt schwierig, was sicherlich auch daran liegt, dass viele sich nur ungern an den Mathematikunterricht in der Schule erinnern. Das liegt nicht unbedingt an den Lehrerinnen und Lehrern! Ich kenne einige und weiß, wie engagiert sie sein können (obwohl es natürlich auch schlechten Matheunterricht gibt; ich selbst habe genau darunter gelitten). Ich habe vor ein paar Jahren schon ausführlich zu diesem Thema geschrieben. Der Kernpunkt meiner Aussage war das hier:
Wenn in der Schule Englisch oder Französisch unterrichtet wird, dann lehrt man dort nicht nur Vokabeln oder Grammatik. Wäre das so, dann wären diese Fächer vermutlich ebenso unbeliebt wie es die Mathematik heute ist. Man muss natürlich Vokabeln und Grammatik lernen, ohne das geht es nicht. Aber man lernt auch, was man mit dieser Sprache anstellen kann. Man erfährt etwas über die französisch- oder englischsprachige Kultur und Geschichte. Über die Länder in denen diese Sprache gesprochen wird. Über die Menschen dort, die Literatur, die Filme, die Küche, und so weiter. Man macht Exkursionen in die entsprechenden Länder und lädt Native-Speaker ein. Kurz gesagt: Man probiert das gesamte Universum dessen zu vermitteln, was diese Sprache ausmacht und wobei sie eine Rolle spielt. Wer in der Schule englisch oder französisch lernt, lernt nicht nur die formalen Eigenschaften einer Fremdsprache kennen, sondern auch die Welt, die von dieser Sprache dominiert wird und in der sie verwendet werden kann.
Genau so sollte es auch mit der Mathematik sein. Mathematik ist eine fremde Sprache und wenn man sie wirklich verstehen will, darf man sich nicht nur auf die Vokabeln und die Grammatik beschränken. Zu wissen, was das “Orthogonalitätskriterium” ist, ist wichtig (ebenso wichtig wie zu wissen, wie man être richtig konjugiert): Zwei Vektoren stehen genau dann orthogonal (also im rechten Winkel) zueinander, wenn ihr Skalarprodukt gleich null ist. Diese Definition muss man – genau so wie das “suis, es, est, sommes, êtes, sont” – irgendwann einmal erklärt bekommen und dann auswendig lernen. Aber man sollte dann auch erklärt bekommen, was man mit diesem Wissen über die Welt erfahren kann!
Die “Grammatik” von Vektoren und Winkeln braucht man zum Beispiel, wenn man über den Raum “reden” möchte. Wenn es in Science-Fiction-Filmen oder Büchern um “fremde Dimensionen” geht, um “parallele Universen”, die neben unserem aber in einer “anderen Richtung” existieren, oder wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von der vierdimensionalen Raumzeit sprechen; von zusätzlichen Dimensionen in der String-Theorie; Warp-Antrieben, Wurmlöcher, und so weiter: Dann ist es meistens nicht schwer, ein Publikum zu finden, das von solchen Themen enorm fasziniert ist (und oft sind es die gleichen Jugendlichen, die den Mathe-Unterricht nicht leiden können).
Wenn man aber nicht nur fasziniert sein möchte, sondern das Fundament dieser Faszination auch verstehen will, dann muss man sich unter anderem mit orthogonalen Vektoren beschäftigen. Dann muss man sich klar machen, dass unser dreidimensionaler Raum von drei zueinander jeweils orthogonalen Vektoren aufgespannt wird und wir uns keinen vierten Vektor vorstellen können, der zu den drei vorherigen ebenfalls orthogonal ist. Weswegen es auch unmöglich ist, uns einen vier- oder mehrdimensionalen Raum vorzustellen. Mit der richtigen Sprache und der richtigen Grammatik können wir solche Räume aber beschreiben, analysieren und erforschen.
Aber ich vermute, in den wenigstens Schulklassen wird der Unterricht über das Orthogonalitätskriterium von Geschichten über andere Dimensionen und Wurmlöcher begleitet. Man wird im Mathematik-Unterricht auch eher selten Exkursionen veranstalten oder “Native-Speaker” einladen (in meiner Schulzeit zumindest gab es nichts davon). Ich kenne zwar einige Mathematik-Lehrerinnen und -Lehrer die sich sehr bemühen und genau das tun. Die in ihren Klassen nicht nur Mathe-Vokabeln und Mathe-Grammatik unterrichten, sondern das ganze faszinierende Universum vermitteln, das einem die Kenntnis dieser Sprache eröffnet. Aber das sind Einzelfälle. Und genau das ist das Problem.
Ich habe da natürlich leicht reden. Ich bin kein Lehrer, ich muss mich nicht an Lehrpläne halten und mit all den anderen Dingen, Regeln und bürokratisch/politischen Widrigkeiten auseinandersetzen, die dem mathematischen Lehrpersonal an den Schulen das Leben schwer machen. Wir haben ja gerade während der Corona-Pandemie erlebt, wie absurd schwer es ist, irgendwas zu reformieren, was mit den Schulen zu tun hat. Den Lehrplan für ein ganzes Fach so anzupassen, dass man am Ende Jugendliche bekommt, die keine irrationale Angst mehr vor der Mathematik haben, ist quasi utopisch. Aber im Prinzip bleibe ich bei meiner Meinung: Niemand käme auf die Idee, eine Fremdsprache allein anhand ihrer linguistischen Formalitäten zu unterrichten. Ein Lehrer, der seine Klasse nur Vokabeln auswendig lernen lässt, müsste sich zurecht der Kritik stellen; eine Lehrerin, die sich abseits des Wörterbuchs nicht mit der Sprache beschäftigt die sie unterrichten soll, ebenso. Und natürlich ist mir bewusst, dass der Vergleich zwischen Mathematik und Fremdsprachenunterricht nur bis zu gewissen Grenzen funktioniert. Mathematik ist wesentlich abstrakter als eine “normale” Sprache.
„Mathematik hat vielleicht den höchsten Abstraktionsgrad aller Schulfächer. Das heißt aber nicht, dass sie ,zu abstrakt‘ ist.“ Das sagt Michael Eichmair, Professor an der Fakultät für Mathematik der Uni Wien, in einem lesenswerten Interview mit dem ORF. Er stellt aber auch gleich klar, dass es gerade diese Fähigkeit zur Abstraktion ist, die die Mathematik so enorm vielseitig und nützlich macht. Er hat die Initiative Mathematik macht Freu(n)de gegründet, um Lehrende zu unterstützen. Ähnliche Einrichtungen gibt es auch anderswo, zum Beispiel an der Universität Innsbruck.
Vermutlich ist genau das der beste Weg. Man muss daran arbeiten, den Mathematikunterricht so zu gestalten, dass die Schülerinnen und Schüler auch wissen, warum sie das lernen, was sie lernen. Sie müssen motiviert sein – aber das ist eigentlich auch nur eine Binsenweisheit. Ich bin ein großer Fan der Mathematik; ich habe mich nicht zufällig in meiner Forschung für die mathelastige Disziplin der Himmelsmechanik entschieden und ich weiß, wie viele enorm faszinierende Geschichten hinter den Zahlen und Formeln zu finden sind. Jedesmal wenn ich nach neuen Themen für meine “Formelwelt”-Kolumne suche, finde ich mehr, als ich schreiben kann. Aber ich fühle mich dennoch ein wenig überfordert, wenn es darum geht einen Weg zu finden, das Image der Mathematik nachhaltig zu verbessern. Die Vorurteile und Ängste setzen schon sehr früh ein und wenn sie erst mal da sind, sind sie kaum noch weg zu kriegen.
Sicher ist nur: Mathematik ist wichtig. Sie ist die Grundlage jeder Naturwissenschaft und wichtiges Werkzeug vieler andere Forschungsdisziplinen. Mathematik ist die Sprache die man beherrschen muss, wenn man die Welt grundlegend verstehen will. Wer Mathematik beherrscht, hat ein Instrument zur Verfügung, mit dem sich sehr viele Dinge sehr viel klarer und einfacher betrachten lassen als ohne. Und wer sie nicht beherrscht läuft Gefahr, von denjenigen manipuliert zu werden, die die Mathematik zu ihrem eigenen Vorteil einsetzen wollen. Michael Eichmair sagt im Interview “Wenn wir in Zukunft eine Wissensgesellschaft sein wollen, dann werden wir ohne Angst mit der Mathematik arbeiten müssen” und hat damit absolut Recht.
Ich werde weiterhin nach einem Weg suchen, wie man gegen die Angst vor der Mathematik vorgehen kann und währenddessen weiterhin meine Kolumnen für die Formelwelt schreiben.
(Und in der Zwischenzeit freue ich mich über Hinweise zu weiteren Projekten, die sich mit genau dieser Thematik beschäftigen)
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