Das ist die Transkription einer Folge meines Sternengeschichten-Podcasts. Die Folge gibt es auch als MP3-Download und YouTube-Video. Und den ganzen Podcast findet ihr auch bei Spotify.
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Sternengeschichten Folge 450: Kippelemente im Klimasystem
“Kippelemente” klingt wie etwas, das man in einem Möbelhaus kaufen kann. Es hat aber etwas mit dem Klima unseres Planeten zu tun. Und weil das Klima und seine menschengemachte Veränderung ein enorm relevantes Thema ist, handelt diese Folge der Sternengeschichten davon. Kippelemente sind wichtig, wenn wir verstehen wollen, was die Zukunft auf der Erde für uns bereit hält und welche Folgen unsere Handlungen haben können. Sie sind auch wichtig, wenn es darum geht, das komplexe System zu verstehen, dass unsere Erde ist. So ein Planet ist viel mehr als nur ein heller Punkt am Himmel; jeder Planet da draußen ist eigene, vollständige und komplizierte Welt. Die Erde allerdings ist – noch – der einzige Planet, den wir im Detail erforschen können. Wenn wir all die Welten da draußen im Sonnensystem und dem Rest des Universums verstehen wollen, müssen wir mit der Arbeit hier bei uns auf der Erde anfangen.
Genau darum war das Klima ja schon öfter mal Thema in den Sternengeschichten. Vereinfacht gesagt ist Klima das, was aus dem Wetter wird, wenn man jede Menge Statistik drauf wirft. Oder anders gesagt: Wetter ist das, was jetzt gerade in unserer Atmosphäre stattfindet. Der Regen, der irgendwo fällt; die Sonne die anderswo scheint oder der Wirbelsturm, der aufzieht. Betrachtet man all diese Wetterphänomene statistisch; berechnet man Durchschnittswerte und schaut sich lange Zeiträume von mindestens ein paar Jahrzehnten an: Dann hat man es mit dem Klima zu tun.
Das Wetter kann sich schnell ändern. Eine Nacht kann frostig sein; ein paar Stunden später scheint aber unter Umständen schon wieder die Sonne und die Temperaturen sind 10 bis 20 Grad höher. Regen und Sonne können sich innerhalb von Minuten abwechseln. Änderungen des Klimas laufen viel langsamer ab. Die durchschnittliche Temperatur, gemittelt über ein ganzes Land und eine komplette Jahreszeit wird sich von einem Jahr auf das nächste nicht dramatisch ändern. Eben weil man Durchschnittswerte verwendet, haben kurzfristige oder kleinräumige Wetteränderungen nur eine geringe Auswirkung. Aber auch das Klima ändert sich. Betrachten wir Jahrhunderttausende, dann sehen wir zum Beispiel, wie sich Eiszeiten und Warmzeiten auf dem Planeten abwechseln, wie ich etwa in Folge 55 der Sternengeschichten schon erklärt habe. Seit circa 150 Jahren findet eine Klimaveränderung statt, die – dafür dass es sich um eine Änderung im Klima handelt – dramatisch schnell abläuft. Diesen Klimawandel haben wir Menschen verursacht, in dem wir immer mehr Treibhausgase in die Atmosphäre entlassen haben – darüber habe ich ausführlich in Folge 434 der Sternengeschichten gesprochen. Die Veränderung im Klima läuft in diesem Fall so ungewöhnlich schnell und hat so dramatische Auswirkungen, dass man sie nicht mit dem harmlos klingenden Wort “Wandel” bezeichnen, sondern korrekter von einer “Klimakrise” sprechen sollte.
Wenn es aber um Kippelemente geht, dann wird dieser schnelle Wandel des Klimas noch einmal verschärft. Vielleicht kann man sich die Veränderung des Klimas wie einen Fahrstuhl vorstellen; so einen alten Aufzug, der gemütlich in Schrittgeschwindigkeit oder noch langsamer zwischen Stockwerken hinauf und hinunter fährt. Das würde dem natürlich Klimawandel entsprechen. Wir Menschen haben in den letzten 150 Jahren die zulässige Gewichtsgrenze in der Aufzugskabine aber deutlich überschritten. Anstatt gemächlich nach unten zu fahren, saust der Fahrstuhl nun rasant dem Boden entgehen. Aber würden wir den Aufzug ein wenig entlasten, würde er die Geschwindigkeit wieder verringern. Den Einfluss eines Kippelements könnte man in diesem Bild mit dem Reißen des Seils vergleichen, das die Kabine hält. Dann fällt der Fahrstuhl unaufhaltsam in den Keller und wir können nichts mehr dagegen unternehmen.
Das klingt dramatisch. Das ist es auch. Die Geschichte der Kippelemente wird uns zeigen, wie enorm komplex das Klimasystem der Erde ist. Und dass ein ausreichend komplexes System seinen Zustand oft erschreckend schnell verändern kann. Ein wenig wissenschaftlicher beschrieben als vorhin im Beispiel mit dem Fahrstuhl, kann man sich ein Kippelement als kritische Schwelle vorstellen, bei der schon eine kleine Änderung ausreicht um den Zustand eines Systems deutlich und nachhaltig zu verändern. Wenn ich meine Kaffeetasse morgens mitten auf den Frühstückstisch stelle, dann steht sie dort relativ sicher. Wenn ich dann die Zeitung lese, mich über die Nachrichten ärgere und wild herumgestikuliere (alles nur fiktive Beispiele natürlich!), dann kann es sein, dass ich dabei gegen die Tasse stoße. Ich werde sie dabei ein wenig verschieben und sie wird ihre Position auf dem Tisch ändern. Sie steht dann nicht mehr dort, wo sie vorher stand, aber ansonsten ist nicht viel passiert. Habe ich sie aber aus Versehen ganz an den Rand gestellt, dann befindet sie sich an einer kritischen Schwelle. Dann reicht eine winzige Berührung, um sie vom Tisch auf den Boden zu befördern und so das System “Kaffeetasse” drastisch zu verändern.
Die Idee eines “Kippelements” oder “Tipping Points”, wie das englische Fachwort dazu heißt, ist nicht schwer zu verstehen. Deutlich schwerer ist es, solche Kippelemente im komplexen System des irdischen Klimas zu identifizieren. Wo stehen – bildlich gesprochen – die Klimakaffeetassen auf der Erde, die wir lieber nicht anstupsen sollten? Die Forschung zu diesem Thema ist noch jung; das Konzept der Kippelemente für das Klima hat der deutsche Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber im Jahr 2000 zur Diskussion gestellt. Gemeinsam mit anderen Forschern aus Deutschland und Großbritannien hat der dann 2008 einen Fachartikel geschrieben. Darin wurde zuerst einmal exakt definiert, was ein Kippelement im Klimasystem ausmacht. Angenommen man hat eine Eigenschaft im System, die von einem bestimmten Parameter abhängt. Zum Beispiel die Eigenschaft, dass ein bestimmter Teil der Erdoberfläche von Eis bedeckt ist. Und es reicht schon eine kleine Änderung aus so dass sich diese Eigenschaft qualitativ ändert. In unserem Beispiel wäre das der Fall, wenn schon eine kleine Änderung der Durchschnittstemperatur ausreicht, um die Eigenschaft “Ein Teil der Erdoberfläche ist von Eis bedeckt” dauerhaft und deutlich zu verändern. Also keine Änderung von “Ein Teil der Erde ist von Eis bedeckt” zu “Ein kleinerer Teil der Erde ist von Eis bedeckt”. Sondern eher eine Zustandsänderung zu “Die Erde ist eisfrei”.
Wir werden auf das Beispiel mit dem Eis zurückkommen; in ihrer Arbeit haben Schellnhuber und seine Kollegen die Definition von Kippelementen aber noch ein wenig weiter eingeschränkt. Ihnen ging es nicht um alle möglichen Kippelemente, die prinzipiell auftreten können. Sondern um die, die durch menschliche Eingriffe in das Klimasystem verursacht werden können und die relevant für die Entscheidungen sind, die wir treffen müssen, wenn wir mit der Klimakrise umgehen wollen. Es nützt zum Beispiel nichts, wenn wir wissen, dass unsere Aktivitäten ein Kippelement in mehr als 1000 Jahren auslösen werden. Das sollte uns zwar interessieren; aber wir werden keine politischen Entscheidungen treffen, die so weit in die Zukunft reichen. Dazu sind wir gesellschaftlich nicht in der Lage; so weit voraus zu denken sind wir Menschen nicht gewöhnt.
Anhand dieser (und ein paar anderer) Kriterien, haben die Forscher nun probiert, für unsere zukünftigen Entscheidungen relevante Kippelemente im Klimasystem der Erde zu identifizieren. Das ist schwierig – weil das Klima deutlich mehr ist, als nur die statistische Betrachtung des Wetters. Über lange Zeiträume hinweg wird das Klima auch von geologischen Phänomenen beeinflusst. Von der Veränderung bei Meeresströmungen. Davon, wie viele Pflanzen wachsen; wie viele Bakterien im Meer leben, und so weiter. Aber ein paar ziemlich sichere Kandidaten für Kippelemente konnten gefunden werden. Zum Beispiel das Meereis in der Arktis. Also nicht die Gletscher, die man auf Grönland findet, sondern die Eisdecke, die den arktischen Ozean bedeckt. Dieses Eis ist hell und kann Sonnenlicht gut reflektieren. Dieser Teil des Lichts trägt dann auch deutlich weniger zu einer Erwärmung der Erde bei. Wenn wir aber zum Beispiel durch den vermehrten Ausstoß von Treibhausgasen dafür sorgen, dass die Temperaturen immer weiter steigen, wird auch das arktische Eis schmelzen. Das führt zu einer negativen Feedback-Schleife. Das Meerwasser ist deutlich dunkler als das Eis. Es kann weniger Licht reflektieren; stattdessen nimmt es die Sonnenenergie auf und erwärmt sich. Wodurch NOCH mehr Eis schmilzt, noch mehr dunkles Wasser sichtbar wird, das noch mehr Wärme aufnehmen kann. Bis das ganze kippt, das Meereis verschwunden ist und auch nicht wiederkommt, weil es dafür zu warm ist. Das Klimasystem der Erde hat dann einen neuen Zustand erreicht, einen bei den es keinen kühlenden Effekt mehr durch die Reflexion am arktischen Eis gibt.
Das Eis, dass sich auf den Landflächen von Grönland und der westlichen Antarktis befindet ist ein weiterer Kippunkt. Das Eis auf Grönland beispielsweise ist bis zu drei Kilometer dick. Anders gesagt: Die Oberfläche des Eispanzers befindet sich entsprechend weit über dem Meeresspiegel und dort ist es – wie auf allen hohen Bergen – kalt. Erwärmt sich die Erde, schmilzt der Eispanzer. Seine Oberfläche rückt nach unten, wo es wärmer wird und das Eis NOCH schneller schmilzt. Wieder setzt eine Feedbackschleife ein; wieder kippt das System in einen neuen Zustand. Und dann fehlt nicht nur die Reflexionswirkung des Eises; das ganze Schmelzwasser hat auch den Meeresspiegel um bis zu sieben Meter ansteigen lassen. Die Daten zeigen uns, dass der Kipppunkt in diesem Fall schon bei einem globalen Anstieg der Temperatur um 2 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Niveau erreicht sein könnte. Das ist genau das “2-Grad-Ziel”, auf das wir die Klimakrise einbremsen wollen und an dem wir zu scheitern drohen, weil wir die entsprechenden Maßnahmen nicht treffen.
Ein weiteres Kippelement sind die Permafrostböden in der Arktis; also in Sibirien und Kanada. So nennt man Boden, der dauerhaft gefroren ist, im Sommer wie im Winter. Was gut ist, denn in diesem Boden befindet sich jede Menge CO2 und Methan. Es stammt aus organischem Material, als von Tieren und Pflanzen, die vor langer Zeit gestorben sind und seitdem von Bakterien zersetzt werden. Der gefrorene Boden hält diese Treibhausgase fest; wird es aber wärmer, dann taut er auf und entlässt CO2 und Methan in die Atmosphäre. Wo sie den Treibhauseffekt verstärken, für noch mehr Erwärmung sorgen, was den Permafrost noch schneller abtauen lässt. Feedback – Kipppunkt – neuer Zustand des Klimasystems. Ein Zustand, der sich nicht korrigieren lässt, denn es hat Jahrtausende gedauert, bis sich das ganze Material dort eingelagert hat. Im neuen Zustand des Klimasystems wird der Boden so schnell nicht wieder frieren; als Lagerplatz für Treibhausgase ist der Permafrostboden verloren.
Kippelemente haben aber nicht nur mit dem Auftauen von Eis und Boden zu tun. Auch diverse Strömungsphänomene können kippen. Das Meer ist nicht einfach nur ein Haufen Wasser. In den Ozeanen existieren Strömungen, die um den ganzen Planeten reichen. Wenn an der Oberfläche viel Wasser verdunstet oder sich viel Eis bildet, dann steigt der Salzgehalt des verbleibenden Wassers. Salziges Wasser sinkt nach unten; dort gibt es andere Strömungen; Wassermassen werden vermischt und weniger salziges Wasser kann wieder aufsteigen. Die Realität der ozeanischen Strömungen ist noch sehr viel komplizierter; ihre Existenz ist für uns aber enorm wichtig. Der “Golfstrom” zum Beispiel transportiert gigantische Mengen an warmen Wasser aus der Karibik über den Atlantik und an Nordeuropa vorbei. Dort kühlt das Wasser in der Arktis ab und sinkt nach unten, wo es in der Tiefe wieder zurück nach Süden fließt. Dieses “Förderband” bringt aber auch Wärme nach Europa, weswegen es zum Beispiel in Großbritannien halbwegs erträgliche Temperaturen hat und nicht so kalt ist, wie etwa im nördlichen Kanada, obwohl beide Regionen ungefähr gleich weit vom Nordpol entfernt sind. Das kalte und dichte Salzwasser, das vor Grönland in die Tiefe sinkt, treibt den Golfstrom an. Wenn nun vermehrt Süßwasser von schmelzenden Eisdecken und Gletschern ins Meer strömt, wird dieses Absinken erschwert und der Golfstrom wird schwächer. Das wird jetzt schon beobachtet und wenn er ganz ausfallen sollte, wird es deutliche Auswirkungen auf das Klima in Nordeuropa haben. Ähnliche Kippelemente können den jetzt regelmäßigen Monsun in Asien oder Afrika destabilisieren, was sehr viel mehr extreme Flut- oder Dürrekatastrophen zur Folge hätte.
Auch die großen Wälder der Erde sind potentielle Kippelemente. Der Amazons etwa ist auch deswegen ein Regenwald, weil über dem Wald jede Menge Wasser verdunstet, dass dann in der ganzen Region abregnet. Je mehr der Wald schwindet; je mehr davon abgeholzt wird, je mehr Waldbrände stattfinden, desto kritischer wird die Lage. Es wird immer weniger Regen geben und der verbleibende, auf regelmäßigen Regen eingestellte Wald, wird absterben. Eine Graslandschaft wird sich entwickeln und die hat einen völlig anderen Einfluss auf das Klima als ein Wald, in dem ja auch jede Menge Kohlenstoff in Form von Bäumen langfristig gespeichert ist.
Es gibt noch weitere Kippelemente; ihnen allen gemeinsam aber ist, dass durch sie die Erde vergleichsweise schnell in einen deutlich anderen Zustand versetzt wird als vorher und sich der ursprüngliche Zustand langfristig nicht mehr wiederherstellen lässt. Die Erforschung komplexer, chaotischer Systeme ist schwierig. Exakte Vorhersagen sind noch schwieriger. Sicher aber ist: Je mehr die Erde sich erwärmt, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Kippelement ausgelöst wird. Und wenn das einmal passiert ist, landen wir im schlimmsten Fall bei einer Kaskade. Der gekippte Zustand macht die Lage noch dramatischer, was neue Kippelemente auslöst, und so weiter. Noch ist es nicht so weit. Es muss nicht so weit kommen. Wir können etwas dagegen unternehmen. Und wir müssen das auch tun. Wir sollten uns nicht auf das Risiko einlassen, dass die Kippelemente darstellen. Ist es einmal so weit, bleibt uns nichts anderes übrig, als irgendwie zu versuchen, mit dem neuen Zustand des Klimasystems nach dem Umkippen klar zu kommen. Wir können aber nicht exakt vorhersagen, wie dieser Zustand aussehen wird. Da ist es doch besser, wir lassen es gar nicht so weit kommen. Denn wir wissen sehr gut, was wir tun können, um die Erwärmung der Erde zu begrenzen. Wir müssen es nur tun…
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