Meine Serie über “Schlechte Schlagzeilen” ist deprimierend. Astronomie ist so eine faszinierende Wissenschaft und es ist bedrückend, wenn man sehen muss, wie sie schlecht und/oder falsch dargestellt wird um Clickbait-Schlagzeilen zu produzieren. Ganz besonders dann, wenn dieser Clickbait von Menschen/Medien kommt, die es eigentlich besser wissen sollten. Bis jetzt war in meiner Serie ja vor allem der (Online)Boulevard vertreten und dort kann man nicht unbedingt mit echtem Interesse an der Wissenschaft oder der Astronomie rechnen; da geht es nur um möglichst spektakuläre Schlagzeilen. Aber bei jemanden, der sich beruflich mit der Vermittlung von Astronomie beschäftigt und in einem Planetarium arbeitet, würde ich anderes erwarten.
Trotzdem kann man im aktuellen YouTube-Video (und der Bewerbung desselben auf den sozialen Medien) von Astro-Comics TV von Tim Ruster folgende Schlagzeile lesen: “NASA hat sich verrechnet: Schlägt Asteroid Apophis doch auf der Erde ein?” Es gibt also wieder mal Asteroidenpanik – und wie immer völlig ohne jeden Grund. Schaut man sich das entsprechende Video an, wird man gleich mit einer dramatischen Botschaft begrüßt:
“Der Asteroid Apophis gilt als eine der größten Gefahren für die Erde. Und nun gab es einen Rechenfehler und ein Einschlag scheint nun wesentlich wahrscheinlicher.”
Eine der größten Gefahren für die Erde! Und dann ist da anscheinend irgendwer zu blöd dafür, diese Gefahr richtig zu berechnen. Das klingt nicht nur beunruhigend, sondern macht einen auch leicht ärgerlich. Mich auch, aber aus anderen Gründen. Es geht weiter im Text:
“Für [das] Treffen im Jahr 2068 gibt es schlechte Nachrichten. Die Wissenschaftler haben sich nämlich verrechnet.”
Im Jahr 2068 wird Apophis der Erde nahe kommen und die Wissenschaftler sind offensichtlich schlampig genug, das nicht ordentlich zu untersuchen! Da geht es um eine gewaltige potenzielle Katastrophe und dann wird sich da verrechnet? “Oh, oh. Wie kann denn sowas passieren?”, fragt sich auch Tim Ruster im Video. Offensichtlich hat man vergessen, den sogenannten Jarkowski-Effekt zu berücksichten, bei dem die Wärmeabstrahlung des Asteroiden zu einer Abweichung von der rein gravitativen Bahn führt. Die endlich erfolgte Korrektur des Fehlers hat, so zitiert Ruster einen der beteiligten Forscher, dazu geführt “das Einschlagsszenario 2068 wahrscheinlich zu machen”.
Aber wir haben Glück. Nachdem die “Fehlberechnung beim Jarkowski-Effekt heraus gekommen ist”, hat die NASA “nochmal ganz genau nachgerechnt” und festgestellt: Es besteht keine Gefahr.
Ist also alles gut? Ja, was die Gefahr durch den Asteroid Apophis angeht. Definitiv Nein, was die Darstellung von Astronomie und Wissenschaft auf einem YouTube-Kanal mit immerhin fast 70.000 Abonnenten betrifft! Folgt man der Darstellung von Ruster, dann sieht es so aus, als wäre die Wissenschaft hier zu doof gewesen, die Bahn des Asteroiden korrekt zu berechnen. Und erst nachdem dieser Fehler “heraus gekommen ist” hat die NASA sich bemüht, die Sache zu klären. So endet das Video (bzw. endet es erst gute 3 Minuten mit Werbung später) und man bleibt ein wenig fassungslos zurück. Manche vielleicht ob der Blödheit der Wissenschaft; ich wegen der Absurdidät dessen, was ich da gerade gehört habe.
In der Realität hat sich die Sache aber völlig anders abgespielt. Es stimmt, dass Apophis ein Asteroid mit interessanter Geschichte ist. Nach seiner Entdeckung war er lange Zeit einer der Asteroiden, bei denen die Kollisionswahrscheinlichkeit mit der Erde besonders groß war. Oder anders gesagt: Sie war sehr, sehr gering. Aber unter den noch geringeren Wahrscheinlichkeiten der anderen Asteroiden eben die größte. Deswegen hat man auch ganz genau hingeschaut, ganz besonders viele Beobachtungen und ganz besonders umfangreiche Berechnungen angestellt. Aber wenn man die Kollisionswahrscheinlichkeit eines Asteroiden mit der Erde bestimmen will, ist das keine Rechnung, die man einmal anstellt und dann ist man fertig. Jede Berechnung einer Umlaufbahn muss mit Ungenauigkeiten umgehen; keine Beobachtung ist zu 100 Prozent exakt. Hinzu kommt, dass Apophis immer wieder nahe an der Erde vorbei fliegt und die Gravitationskraft unseres Planeten den Asteroid bei so einem Rendezvous leicht ablenkt und auf eine neue Bahn schubst. Auch das kann man berechnen, aber gerade wenn es um sehr nahe Begegnungen geht, werden die Ungenauigkeiten groß. Es geht dabei um chaotisches Verhalten und das lässt sich nur bedingt vorhersagen.
Vor allem, weil man bei sehr exakter Bahnbestimmung mehr als nur die reine Gravitationskraft berücksichtigen muss. Die ist immer noch die wichtigste Kraft und man muss neben dem Einfluss von Sonne, Erde und Mond auch noch die der anderen Planeten und sogar der größeren Asteroiden in die Rechnungen einfließen lassen, wenn sie genau sein sollen. Aber man muss auch Gezeitenkräft berücksichtigen und “nichtgravitative” Kräfte wie eben den Jarkowski-Effekt. Den hat die NASA definitiv nicht vergessen; das wäre höchst absurd. Eine der wichtigsten Aufgaben der NASA ist die Berechnung der zukünftigen Positionen aller relevanten Himmelskörper (unter anderem, weil man dort ab und zu mit Raumsonden hinfliegt und daher gerne wissen will, wo die sind, wenn man dort ankommt).
Selbstverständlich vergisst die NASA nicht den Jarkowski-Effekt, wenn er für die Bewegung eines Objekts relevant ist. Die Arbeit, auf die Ruster sich bezieht (vermutlich, denn Quellenangaben gibt es im Video nicht), erschien im November 2020 und trägt den Titel “Detection of Yarkovsky Acceleration of (99942) Apophis”. Das Wort “Detection”, also “Nachweis” könnte einen aufmerksam werden lassen. Es geht darum, dass man neue Beobachtungsdaten über Apophis bekommen hat. Und mit diesen Daten die Bahn sehr viel genauer berechnen konnte als vorher. So genau, dass es nun möglich war, den winzigen Einfluss des Jarkowski-Effekts in der Bewegung des Asteroids zu sehen und zu quantifizieren: 170 Meter pro Jahr beträgt die Abweichung von einer rein gravitativen Bahn.
Mit diesem Wissen kann man die ganze Berechnung der Kollisionswarhscheinlichkeit noch einmal neu und genauer machen als vorher. Das Ergebnis: Eine Kollision im Jahr 2068 ist weiterhin extrem unwahrscheinlich, lässt sich aber auch mit den neuen Daten nicht völlig ausschließen. Oder wie es Dave Tholen, einer der Autoren der Arbeit in einer Pressemitteilung sagt: “[T]he asteroid is drifting away from a purely gravitational orbit by about 170 meters per year, which is enough to keep the 2068 impact scenario in play”. Das klingt ganz anders als das (angebliche) Zitat im Video: “Die neuen Beobachtungen zeigen, dass sich der Asteroid von einer rein gravitativen Umlaufbahn um etwa 170 Meter pro Jahr entfernt, was ausreicht, um das Einschlagsszenario 2068 wahrscheinlich zu machen”. Ich habe diesen Satz tatsächlich nur auf einer einzigen Internetseite gefunden, nämlich hier; überall sonst wird Tholen korrekter zitiert (hier ist ein Beispiel).
Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Denn angeblich hat die NASA ja wegen der “Fehlberechnung” nochmal genau hingesehen. Was tatsächlich passiert ist: Im März 2021 kam Apophis wieder mal in der Nähe der Erde vorbei. Bzw. in einem Abstand von 17 Millionen Kilometern – was aber nah genug war, um ihn mit Radioteleskopen von der Erde aus anzuvisieren und seine Position sehr exakt zu bestimmen. Diese neuen Beobachtungen führten dazu, dass man die Bahn ein weiteres Mal genauer als vorher berechnen konnte. Mit dem Resultat, dass wir nun sicher wissen, dass Apophis in diesem Jahrhundert keine Gefahr mehr für uns darstellt.
So. Wir haben nun also einmal eine Geschichte, in der ein extrem gefährlicher Asteroid in der Nähe der Erde rumrast, die Wissenschaft zu blöd ist, seine Bahn zu berechnen und erst nach dem Aufdecken einer “Fehlberechnung” von der NASA festgestellt wird, das wir uns keine Sorgen machen müssen. Und eine zweite Geschichte, in der die Astronomie seit der Entdeckung von Apophis immer wieder sehr genau hinschaut, sehr genau berechnet und in der unser Wissen über die Bahn des Asteroiden daher im Laufe der Zeit immer genauer wird, bis wir uns sicher sein können, dass keine Gefahr besteht. Beide Geschichten sind spannend und beide sind interessant. Die erste ist allerdings falsch und nicht nur das: Sie lässt die absolut seriöse Arbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einem unfair schlechten Licht dastehen. Es hat sich niemand “verrechnet”! Man hat genau das gemacht, was man machen konnte und sollte! (Ich selbst habe in meinem Blog schon oft über die Forschung an Apophis geschrieben, das erste Mal im Jahr 2008 und seitdem immer wieder. Das, was im kritisierten Video angesprochen wird kann man hier und hier lesen).
Ich finde diese Angelegenheit wirklich ärgerlich. Einmal aus den schon eingangs genannten Gründen. Aber auch, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, dass sich sehr viele (vor allem junge) Menschen von solchen Clickbait-Schlagzeilen beeinflussen und Angst einjagen lassen. Seit ich angefangen habe, öffentlich über Astronomie zu sprechen, bekomme ich regelmäßig Emails und Anfragen von Erwachsenen, Jugendlichen und sogar Kindern, die ernsthafte Angst haben, durch einen Asteroideneinschlag sterben zu müssen oder ihre Familie zu verlieren. Eine irrationale Angst, angefeuert durch die vielen hysterischen Schlagzeilen zu diesem Thema. Vermutlich ärgert mich das alles auch, weil die Asteroiden und vor allem die Berechnung von Kollisionswahrscheinlichkeiten das Thema sind, an dem ich selbst als Astronom geforscht habe (darüber habe ich sogar meine Doktorarbeit geschrieben); ich fühle mich also auch ein wenig persönlich getroffen, wenn ich über dieses faszinierende Forschungsthema Quatsch lesen muss.
Am meisten ärgert mich aber – wie immer in dieser Serie – der Clickbait. Astronomie ist faszinierend. Astronomie hat so viele Aspekte, mit denen man die Menschen begeistern kann. Sie ist ästhetisch, sie ist unvorstellbar, sie vermittelt ein Gefühl der Erhabenheit und gibt uns Einblicke in eine Welt, die von unserem Alltag kaum weiter entfernt sein könnte. Am Himmel sehen wir Phänomene, die wir hier auf der Erde niemals sehen könnten; dort passieren Dinge, die hier nie passieren könnten und die außerhalb unserer Erfahrung und Vorstellung liegen. Die Astronomie beschäftigt sich mit den fundamentalen Fragen nach dem Anfang und dem Ende der Dinge, nach unseren Ursprüngen und unserem Platz im Gefüge des Universums. Astronomie ist großartig und wenn man es richtig anstellt, ist es nicht schwer die Menschen damit und davon zu begeistern. Wieso, verdammt noch mal, kommt man angesichts all dessen auf die Idee, die Astronomie per Clickbait- und Panikmache-Schlagzeile vermitteln zu wollen? Das wird der Astronomie nicht gerecht und ist allen unwürdig, die eigentlich vorhaben, den Menschen echte Wissenschaft zu vermitteln.
P.S. Ich hätte mir den YouTube-Kanal gar nicht anschauen dürfen. Andere Videos dort tragen Titel wie “Hinweis auf Parallelwelten entdeckt!”, “Große Gefahr für die Erde: Sonnentsunami könnte uns treffen!”, “Halten Aliens uns gefangen?”, “Die NASA hat etwas UNTER der Antarktis entdeckt” oder “Riesenkomet rast auf das Sonnensystem zu”. Urgs.
Mehr schlechte Schlagzeilen gibt es hier
Kommentare (19)