Die schlechte Schlagzeile von heute habe ich zur Abwechslung mal ganz klassisch und offline gefunden. In der Zeitung, in der ich geblättert habe, als ich am Morgen beim Bäcker auf meinen Kaffee gewartet habe. Das war die Kronen Zeitung und die lese ich nicht nur nicht, ich vermeide es im Allgemeinen auch darin zu blättern. Die Krone ist das österreichische Pendant zur BILD, nur noch ein wenig ärger. Und wenn heute nicht schon auf der Titelseite eine Geschichte über Mathematik in der Schule angeteasert worden wäre, dann hätte ich sie wie sonst einfach ignoriert. Gekauft habe ich sie dennoch nicht; die entsprechende Geschichte gibt es auch online. Dort ist sie mit der Schlagzeile “Mathematik vermiest vielen den ganzen Schultag” überschrieben und gleich danach wird versprochen: “Experten geben für „Krone“ einen Einblick, wie man „das“ Schreckgespenst vieler Schülerinnen und Schüler wieder loswerden kann.” (Expertinnen gibt es bei der Krone selbstverständlich nicht, wo kämen wir denn da hin!).
Es geht weiter mit harten Zahlen: ” „Wenn Mathe auf dem Stundenplan steht, freut mich der ganze Schultag nicht“, sagen 73,4 Prozent.”. Fast drei Viertel der Schülerinnen und Schüler haben solche Probleme mit Mathematik, dass es ihnen den ganzen Tag kaputt macht? Klingt unglaubwürdig und ist auch falsch. Dazu aber gleich mehr. Erst hören wir noch kurz dem Experten zu, nämlich Angela Schmidt: “„Wir beobachten seit 25 Jahren, dass Mathematik das Problemfach Nr. 1 ist“”. Das will ich auch gar nicht bestreiten. Aber, und darüber informiert auch die Krone selbst, Frau Schmidt ist die Sprecherin einer Nachhilfe-Organisation und von dort stammt auch die Umfrage, die Anlass für den Artikel ist. Jetzt sind Meinungsumfragen aktuell in Österreich Anlass für jede Menge Unruhe: Die Staatsanwaltschaft wirft jeder Menge Spitzenpersonal der Regierungspartei ÖVP (inklusive dem jetzt Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz) unter anderem vor, gefälschte Umfragen beauftragt und gegen das Versprechen von Inseratengeldern in Boulevardzeitungen untergebracht zu haben. Man ist also skeptisch, wenn es um Umfragen geht und auch wenn das Mathe-Thema nichts mit der Korruptionsaffäre zu tun hat, ist es einen zweiten Blick wert, wenn ein Nachhilfe-Institut Umfragen zu den Lernschwierigkeiten von Schülerinnen und Schülern veröffentlicht.
Laut Krone ist die Lage auf jeden Fall dramatisch:
“Dabei zeigt schon die Umfrage, für wie viele Mathe „das“ Schreckgespenst in der Schule ist: Jeder Dritte kommt im Unterricht kaum mit, 55,1 Prozent fürchten sich vor Schularbeiten und Prüfungen – was heißt: Er muss sich dann daheim entsprechend länger mit Hausübungen quälen, die er nicht versteht, und sich zusätzlich noch Hilfe holen, hat Angst vor den Prüfungen, was wiederum dazu führt, dass Gelerntes nicht gut abrufbar ist – und der Teufelskreis beginnt.”
Ja, wenn er sich daheim “quälen” muss, ist das wirklich kontraproduktiv (übrigens auch, wenn sie das tun muss, aber so wie Expertinnen kennt die Krone offensichtlich auch keine Schülerinnen). Aber schauen wir doch einfach mal weg vom Boulevard (immer eine gute Idee) und hin zu den Daten, die Grundlage des ganzen sind. Die findet man hier und wir erfahren als erstes, dass es sich um eine Online-Befragung von 635 Schülerinnen und Schülern zwischen 10 und 19 Jahren im Sommer 2021 handelt. Davon, ob die Erhebung repräsentativ ist, oder in welchen Schulen und Schultypen die Umfrage durchgeführt worden ist, erfährt man nichts. Aber gut, schauen wir weiter…
Zuerst wird gefragt, wie denn der Mathe-Unterricht gefällt, so ganz allgemein. Bewertet wurde durch Schulnoten (von “Sehr gut” bis “Ungenügend”) und immerhin 82,5 Prozent geben ihrem Unterricht eine positive Note; “Nicht genügend” empfinden ihn nur 17,5 Prozent. 28,9 Prozent halten ihren Mathe-Unterricht für “Sehr gut” oder “gut” und nimmt man auch noch die 31,2 Prozent mit “Befriedigend” dazu, dann hat man 60,1 Prozent, die mit dem Unterricht im großen und ganzen zufrieden sind.
Interessant ist die Frage: “Hast du den Eindruck, dass du während des Schul‐Unterrichts alles verstehst, was in Mathe unterrichtet wird?”. 34,9 Prozent können “Immer” bzw. “Meistens” folgen; “Selten” oder “Nie” kommen 32,2 Prozent mit. Ein Drittel an Schülerinnen und Schülern, die gröbere Schwierigkeiten im Mathe-Unterricht haben sind natürlich nicht gut. Aber immerhin kann die Mehrheit im großen und ganzen verstehen, was unterrichtet wird. Die Hausaufgaben werden von nur 26,3 Prozent als “ziemlich” oder “sehr schwierig” empfunden; der Rest sieht den Schwierigkeitsgrad als unterdurchschnittlich oder normal an – und im Schnitt werden 40 Minuten für die Erledigung der Aufgaben benötigt.
Bei den Schularbeiten (“Klassenarbeiten” für die Mitlesenden aus Deutschland) ist die Furcht bei 55,1 Prozent “Sehr” oder “Ziemlich” groß (das ist auch die Zahl, die im Krone-Artikel erwähnt wird). Das ist natürlich nicht gut – aber hier stellt sich mir jetzt sehr drängend eine Frage, die sich mir bei der kompletten Umfrage gestellt hat: Wie ist das in anderen Fächern? Wenn ich mich an meine Schulzeit erinnere, dann hatte ich eigentlich vor keiner Schularbeit das Gefühl “Ja, kein Problem, alles locker”. Direkt gefürchtet habe ich mich auch nicht, aber um zu wissen, um 55 Prozent an Furcht jetzt viel oder wenig ist, müsste man zuerst einmal wissen, wie das im Vergleich zu anderen Fächern ist und idealerweise auch, ob diese Furcht mit schlechten Noten und den anderen negativen Metriken der Umfrage korreliert. Denn man kann ja durchaus auch Ahnung von Mathe haben, sich vor der Schularbeit aber dennoch fürchten und trotzdem eine gute Note schreiben…
Und gegen Ende der Umfrage finden wir nun auch die Zahlen, die mit der Freude am Schultag zu tun haben. Abgefragt wurde die Zustimmung zum Satz “Wenn Mathe auf dem Stundenplan steht, freut mich der ganze Schultag nicht”. Das Resultat: 33,1 Prozent. Das sind deutlich weniger als die 73,4 Prozent aus dem Krone-Artikel. Was daran liegt, dass die Zahl dort einfach falsch ist. Die 73,4 kriegt man, wenn man die Prozentwerte aus der Frage zu den Hausübungen addiert und zwar nicht nur die, die mit “ziemlich” und “sehr schwierig” geantwortet haben, sondern auch die, die Übungen als “durchschnittlich schwierig” empfinden. Warum man diese Gruppen zusammenfassen sollte, erschließt sich mir zwar nicht – aber so kommt man auf die 73,4 Prozent (die die Krone dann auch, zumindest in ihrem Kontext, korrekt auf einer selbst erstellten Grafik präsentiert).
Es gibt noch mehr Daten in der Umfrage, ich möchte aber nur noch kurz auf “Haben sich deine Noten in Mathematik während der Corona‐Pandemie verändert?” schauen. 37,2 Prozent hatten schlechtere Noten, bei den restlichen 62,8 Prozent blieben sie gleich oder wurden besser. Ich weiß nicht, ob man das als “Verschärfung des Mathe-Dilemmas” bezeichnen kann, wie das die Nachhilfe-Firma in ihrer Zusammenfassung der Daten tut. Dazu müsste man wissen, ob das eine überdurchschnittliche Veränderung ist oder nicht. Denn Noten werden halt aus vielen Gründen besser oder schlechter…
Ich will keinesfalls so tun, als wäre mit dem Unterricht an Österreichs Schulen im Allgemeinen und dem Mathe-Unterricht im Speziellen alles paletti. Das ist sicher nicht so. Und es ist nicht nur schade, sondern durchaus auch aus gesellschaftlichen Gründen schlecht, wenn die Mathematik schon in den Schulen einen schlechten Ruf hat. Mathe ist wichtig! Auch wenn man später einen “normalen” Job hat und nicht in der Naturwissenschaft arbeitet, hilft einem ein Sinn für Mathematik, die Komplexität der Welt ein wenig besser durchschauen zu können. Deswegen wäre es absolut wünschenswert, wenn Mathematik so unterrichtet wird, dass alle verstehen können, was dieses Fach eigentlich ist und worin sein Wert und seine Faszination bestehen. Über all das, was im Mathe-Unterricht falsch läuft, habe ich vor ein paar Jahren schon einen Text geschrieben, inklusive Möglichkeiten, wie man das ändern könnte.
Was aber definitiv nicht sinnvoll ist: Einen reißerischen Artikel in der auflagenstärksten österreichischen Tageszeitung zu veröffentlichen, der auf Daten basiert, die aus einer (möglicherweise nicht repräsentativen) Online-Umfage stammen, die von einer Institution durchgeführt wurde, die beim Thema “Haben die Kinder Probleme mit Mathematik” nicht unbedingt als “neutral” bezeichnet werden kann.
Tatsächlich kann ich aber dem letzten Satz des Artikels voll und ganz zustimmen. Die schon eingangs erwähnte Sprecherin des Nachhilfe-Instituts sagt da: “Wir würden uns wünschen, dass sich ein Expertengremium zusammensetzt und das Schulfach überdenkt”. So etwas ist zwar einfacher gefordert als getan. Aber auch wenn die Lage vermutlich nicht so dramatisch ist, wie der Krone-Artikel es darstellt: Ein wenig Reform täte dem Mathematik-Unterricht mit Sicherheit gut!
Mehr schlechte Schlagzeilen gibt es hier
Kommentare (23)