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Sternengeschichten Folge 510: Die wunderbare Nebelkammer
Wissenschaft funktioniert deswegen, weil wir die Welt beobachten. Früher, als wir noch quasi gar nichts gewusst haben, konnte man tatsächlich einfach “nur” beobachten. Also schauen, wie Äpfel von Bäumen fallen. Oder wie Wellen an den Strand klatschen. Oder Vögel fliegen. Und so weiter. Aber damit kommt man nicht beliebig weit. Genau deswegen haben wir Mikroskope erfunden. Und Teleskope. Und all die anderen Beobachtungs- und Messinstrumente mit denen die moderne Wissenschaft heute arbeitet.
Ein ganz besonderes Instrument ist die Nebelkammer. Damit kann man das eigentlich Unsichtbare beobachten und zwar, in dem man auf Nebel starrt. Das klingt absurd, denn Nebel ist ja eigentlich etwas, das die Beobachtung erschwert. In dem Fall macht er sie aber erst möglich; mit einer Nebelkammer konnte die Welt der Elementarteilchen das erste Mal quasi direkt erforscht werden. Der undurchsichtige Nebel hat uns die Augen für die unsichtbaren Bausteine der Atome geöffnet.
Die Nebelkammer wurde vom Schotten Charles Thomson Rees Wilson erfunden. Er wurde am 14. Februar 1869 in Glencorse geboren, als Sohn eines Bauerns in der Nähe von Edinburgh. Der Vater starb aber, als Wilson erst vier Jahre alt war und seine Mutter zog mit ihm und seinen sechs Geschwistern nach Manchester. Wilson war schlau und studierte zuerst am Owen’s College in Manchester und dann an der Universität Cambridge. Eigentlich hatte er vor, Arzt zu werden – stellte aber bald fest, dass er sich viel mehr für Chemie und Physik interessierte. Und neben der Forschung hatte er eine weitere große Leidenschaft: Das Wandern. Das tat Wilson vor allem in seiner Heimat Schottland und eines seiner Lieblingsziele war der Ben Nevis. Der höchste Berg Schottlands und Großbritannien ist zwar nur 1345 Meter hoch, das reicht aber, dass man von oben auf die Wolken herab blicken kann, wenn das Wetter passt. Und dass man beim Anstieg mitten durch die Wolken und den Nebel wandert. Und Wilson fand Wolken und Nebel großartig. Er konnte sich die Wolken ewig anschauen und darüber nachdenken, wie sie funktioniern und wie sie entstehen.
In Folge 105 der Sternengeschichten habe ich ja schon ausführlich über die Wolkenforschung gesprochen, die im 19. Jahrhundert gerade so richtig wissenschaftlich Fahrt aufnahm. Und auch von Wilsons Kollegen in Großbritannien durchgeführt wurde. Zum Beispiel von John Aitken, der als erster herausfand, dass man sogenannte Kondensationskerne braucht, wenn Wolken entstehen sollen. Also irgendwas, an dem sich die Feuchtigkeit die in der Luft ist auch anlagern kann, so dass die großen Wassertropfen entstehen, die eine Wolke bilden und sichtbar machen. Um das zu erforschen hat Aitken einen Apparat gebaut, der auch im Labor Wolken erzeugen kann. Im Prinzip war das nur eine Glaskugel, in der jede Menge Wasser- beziehungsweise Alkoholdampf war. Wenn dann noch Staub dazu gegeben wurde, konnte sich die Tröpfchen dort anlagern. Aitken hat das vor allem deswegen getan, weil er rausfinden wollte, wie viel Staub so in der Atmosphäre rumfliegt und wie groß die Staubteilchen sind. Da er die aber nicht so gut zählen konnte, hat er sie auf dem Umweg seiner Apparatur in Nebeltropfen umgewandelt, die mit Licht beleuchtet und weil es um so mehr Nebeltropfen gab, je mehr Staub in der Atmosphäre war, konnte er aus der Menge des reflektierten Lichts die Staubmenge abschätzen.
Aitken hat übrigens auch als einer der Ersten mit der Luftverschmutzung in den Städten, mit dem Smog beschäftigt und gezeigt, dass der vor allem aus den Rußpartikeln entsteht, die bei der Verbrennung von Kohle in die Luft gelangen. Aber zurück zu Wilson. Der war weiterhin fasziniert von der Vielfalt und Ästhetik der Wolken und des Nebels, die er bei seinen Wanderungen durch Schottland beobachten konnte. Aber er war auch Wissenschaftler und wollte den Nebel verstehen. Also hat er sich eine Maschine wie die von Aitken gebaut und in seinem Labor den künstlichen Nebel betrachtet. Im Prinzip würde das als Zusammenfassung seiner Forschungsarbeit schon reichen: Wenn Wilson nicht gerade Vorlesungen an der Uni halten musste, stand er im Labor, bastelte an der Nebelmaschine herum und betrachtete das Ergebnis. In jahrelanger Arbeit hat er die Maschine immer weiter verbessert. Anfangs wollte er nur die Arbeit von Aitken nachvollziehen. Er gab also ebenfalls Wasser- bzw. Alkohol in seine Kammer die so konstruiert war, dass man durch das schnelle Herausziehen eines Kolbens das Volumen schlagartig vergrößern konnte. Die sich schnell ausdehnende Luft kühlt dabei ebenso schnell ab und das bringt die Wasser- bzw. Alkoholtropfen dazu, zu kondensieren, wenn entsprechende kleine Partikel in der Kammer vorhanden sind.
Aber Wilson stellte fest, dass sich auch dann Nebel bilden kann, wenn die Luft in der Kammer absolut rein ist. Wilson wollte wissen, warum das so ist und experimentierte weiter. Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt Wilhelm Conrad Röntgen die nach ihm benannte Röntgenstrahlung und die hat Wilson gleich in sein Experiment eingebaut. Wenn er Röntgenstrahlung in seine Nebelkammer fallen ließ, dann entstanden dort Wolken! Wilson hatte nachgewiesen, dass auch Strahlung in der Lage ist, Wolkenbildung anzuregen. Zur gleichen Zeit waren Marie Curie und ihr Mann Pierre dabei, die Radioaktivität zu erforschen und auch hier konnte Wilson zeigen: Gibt man radioaktives Material in die Nebelkammer, gibt es Wolken. Das waren durchaus relevante Ergebnisse. Denn in der Atmosphäre der Erde sind der Staub und die anderen Partikel die zur Wolkenbildung führen vor allem in den unteren Schichten zu finden. Aber Wolken entstehen auch – wenn auch nicht so dicht und häufig – sehr viel weiter oben. Und – das hatte Wilson jetzt gezeigt – dafür kann die Strahlung verantwortlich sein, die aus dem Weltall kommt. Diese “kosmische Strahlung” wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von Victor Hess entdeckt, der zeigen konnte, dass diese Strahlung umso stärker wird, je weiter man sich vom Erdboden entfernt.
Wilson schaute weiter in den Nebel. Sein Gerät war mittlerweile enorm sensibel. Er hatte die Luft gerade so mit Alkohol gesättigt, dass sie unmittelbar an der Grenze zur Kondensation war. Die kleinste Störung konnte reichen, dass sich Nebeltröpfchen bilden. Und Wilson war auch sehr, sehr gut darin geworden, diese Nebeltröpfchen zu erkennen. 1911 sah er dann das erste Mal etwas, was er “Knoten” nannte. Er vermutete, dass es sich um die Punkte handelte, wo sich Strahlung die aus unterschiedlichen Richtungen kommt, kreuzt. Aber so richtig klar war ihm das alles noch nicht. Am 29. März 1911 kam dann – nach weiteren Verbesserungen am Gerät – der Durchbruch. Wilson schrieb in seinen Aufzeichnungen, dass er “äußerst feinen Linien” sah, die vor allem von dort kommen, wo seine Strahlungsquelle auf die Kammer gerichtet war.
Wilson fasste alles was er entdeckt und herausgefunden zusammen und veröffentlichte im Juni 1911 die Arbeit “On a method of making visible the paths of ionising particles through a gas”. Das klingt nicht so spektakulär wie das, was es wirklich war. “Ionisierende Partikel” sind subatomare Teilchen; die Teile aus denen ein Atom besteht, die Bausteine des Atomkerns und die Elektronen aus seiner Hülle. Dass es die geben musste, hatte man schon Ende des 19. Jahrhunderts gezeigt. Indirekt natürlich, weil direkt sehen konnte man sowas nicht. Direkt gesehen hat sie auch Wilson nicht. Aber er hat sie quasi sichtbar gemacht. Wenn zum Beispiel ein Elektron mit hoher Geschwindigkeit durch die Luft saust, stößt es gegen die Moleküle und Atome der Luft und erzeugt dabei Ionen, also geladene Atome. Die sind besonders super als Kondensationskerne für Nebeltropfen, sofern die Bedingungen dafür herrschen. Diese Bedingungen hatte Wilson in seiner Kammer geschaffen und konnte dadurch den Flug eines Elektrons durch die Luft als feine Nebelspur sichtbar machen. Nach ein, zwei Sekunden war die dünne Nebellinie die die Existenz des Elektrons hervor ruft schon wieder verschwunden. Aber so lange sie da ist, ist sie gut zu sehen. Und man kann sie auch fotografieren, was Wilson getan hat, aber auch in seiner Arbeit anmerkt: “Die Fotografie vermittelt nur einen schwachen Abglanz der Schönheit jener Wolken”.
Wilsons Nebelkammer war das erste Instrument, dass die Flugbahnen der subatomaren Teilchen sichtbar machen konnte. Diese Entdeckung kann man kaum überschätzen. In den kommenden Jahrzehnten wurde die Nebelkammer zum wichtigsten Instrument der Teilchenphysik. Man kann sie nicht nur zum einfachen “Zuschauen” benutzen. Legt man zum Beispiel elektrische oder magnetische Felder an die Nebelkammer an, dann wird dadurch die Flugbahn der Teilchen beeinflusst, je nachdem ob sie elektrisch positiv geladen sind oder negativ. Oder, wenn sie ungeladen sind, dann fliegen sie halt grad durch, aber auch das ist ja ne Information. Man kann gezielt bekannte Teilchen in die Kammer leiten und dann schauen, was passiert, wenn sie kollidieren. Oder radioaktiv zerfallen. Dann entstehen neue Teilchen, die man anhand ihre Nebelspur identifizieren kann. Oder vielleicht sieht man eine Spur, die zu keinem bekannten Teilchen passt. Dann hat man ein neues entdeckt und genau das ist mit der Nebelkammer und ihren Nachfolgern durchaus passiert.
Aus dem kleinen Gerät in Wilsons Labor wurden immer größere, ausgeklügeltere Anlagen. Man hat damit das Positron entdeckt, also das Antiteilchen des Elektrons und das erste Mal Antimaterie nachgewiesen. Man hat das Myon in der Nebelkammer gefunden, ein weiteres Elementarteilchen. Man hat andere Teilchen gefunden, wie zum Beispiel das Kaon. Jede Menge Leute haben dank Wilsons Nebelkammer einen Nobelpreis gewonnen und ohne sie wäre die Physik heute nicht da, wo sie ist. Und Wilson? Der hat für seine Erfindung 1927 auch einen Physik-Nobelpreis bekommen, alles andere wäre auch absolut ungerecht gewesen. Ernest Rutherford, der fundamentale Arbeit zum Verständnis der subatomaren Teilchenwelt geleistet und unter anderem gezeigt hat, wie man durch radioaktiven Zerfall Atome in andere Atome umwandeln kann, hat die Nebelkammer als das “originellste und wunderbarste Instrument in der Naturwissenschaft” bezeichnet. Heutzutage verwendet man andere Methoden um Teilchen nachzuweisen. Aber für Jahrzehnte war die Nebelkammer das wichtigste Instrument das die Teilchenphysik hatte. Heute kann man sie immer noch sehen, in vielen Museen stehen solche Instrumente und zeigen die unsichtbare Welt der Atome. Man kann sich auch selbst eine bauen. Dazu braucht man nicht viel; ein Glas, ein bisschen Trockeneis, ein wenig starken Alkohol, schwarze Plastikfolie und eine Taschenlampe. Das Trockeneis – das man leicht im Internet bestellen kann – wird zu Schnee zerstoßen. Das gefrorene CO2 hat eine Temperatur von -80 Grad und wird mit der Plastikfolie bedeckt. Dann nimmt man das Glas, spült es mit dem Alkohol aus und stellt es auf die Plastikfolie. Die Luft mit den Alkoholtröpfchen kühlt ab und es bilden sich die Bedingungen unter denen Wolken entstehen können. Wenn man mit der Lampe waagrecht auf das Glas leuchtet und lange genug wartet, dann kann man irgendwann die feinen Nebelspuren sehen, die auch Wilson gesehen hat und die die Existenz der aus dem All kommenden kosmischen Strahlung anzeigen. Entsprechende Bauanleitungen kann man überall im Internet finden und es ist wirklich absolut faszinierend, den aus dem Nichts auftauchenden Spuren zuzusehen.
Wilson selbst hat bis an sein Lebensende weiter geforscht. Am Nebel – aber auch an Gewittern. Die haben ihn genau so fasziniert wie der Nebel. Er wollte Blitze verstehen und hat unter anderem die Existenz von “Sprites” vorhergesagt. Das sind Blitze, die über den Wolken nach oben ausschlagen, bis in eine Höhe von 100 Kilometern. Tatsächlich nachgewiesen konnte diese Art der Blitze aber erst nach Wilsons Tod. Er starb am 15. November 1959 und zum Abschluss hören wir uns noch an, was er in der Dankesrede bei der Verleihung des Nobelpreis gesagt hat:
“Im Herbst 1894 verbrachte ich ein paar Wochen auf dem Gipfel eines wolkigen schottischen Bergs, dem Gipfel des Ben Nevis. Morgen um Morgen sah ich dort die Sonne über einem Meer von Wolken aufgehen und den Schatten des Bergs auf den unter mir liegenden Wolken, umgeben von prachtvollen farbigen Ringen. Durch die Schönheit dessen, was ich sah, verliebte ich mich in die Wolken und entschloss, zu experimentieren um sie besser zu verstehen.”
Das ist Wissenschaft im besten Sinne: Der Wunsch, die Schönheit die man in der Welt sieht, zu verstehen.
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