Letzte Woche habe ich von einem Asteroid berichtet, der uns Hinweise auf die chaotische Vergangenheit des Sonnensystems geliefert hat. Damals ging es wild zu und bei all diesem Chaos sind nicht nur die Asteroiden ordentlich durchgeschüttelt worden, sondern auch die Planeten. Die acht Planeten, die heute die Sonne umkreisen, sind diejenigen, die all dieses Durcheinander überstanden haben. Viele andere Planeten sind dabei zerstört worden, in die Sonne gestürzt oder aus dem Sonnensystem geworfen worden. Und vermutlich sind auch ein paar Planeten weit aus dem inneren Sonnensystem hinaus in seine äußersten Bereiche geschleudert worden. Dort müssten sie dann auch heute noch sein und warten auf ihre Entdeckung. Hinweise auf weitere Planeten im Sonnensystem gab es im Laufe der Zeit jede Menge und besonders seit 2016 verdichten sie sich. Ich habe damals eine ausführliche Serie über die Suche nach diesem “Planet X” oder “Planet 9” geschrieben (Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4). Es ist plausibel, dass da irgendwo, weit hinter der Bahn des Neptun, noch mindestens ein Planet sein Runden zieht.
Extreme Asteroiden als Entdecker
Doch ihn konkret zu entdecken ist schwierig. Wenn er da ist, ist er weit weg, leuchtet extrem schwach und ist kaum von den vielen ebenfalls schwach leuchtenden Sternen zu unterscheiden. Aber die Astronomen geben die Suche natürlich nicht auf. Solange eine direkte Beobachtung nicht möglich ist, probiert man, ihm anderweitig auf die Spur zu kommen. Und die beste Möglichkeit dafür sind Asteroiden!
Dabei sind hier nicht die erdnahen Asteroiden gemeint und auch nicht die Asteroiden im Hauptgürtel zwischen den Bahnen von Mars und Jupiter. Und auch nicht die, die hinter dem Neptun ihre Runden im Kuiper-Asteroidengürtel ziehen. Wir brauchen die noch weiter entfernten Asteroiden die zur sogenannten gestreuten Scheibe (scattered disk) gehören. Das sind Asteroiden, die der Sonne niemals näher kommen als 30 Astronomische Einheiten (AE). Eine AE entspricht dem mittleren Abstand zwischen Erde und Sonne und der Neptun ist ungefähr 30 AE weit entfernt. Die Asteroiden der gestreuten Scheibe (oder SDOs: scattered disk objects) sind aber nicht nur sehr weit entfernt, sie haben auch sehr extreme Umlaufbahnen. Ihre Bahnen sind im Allgemeinen keine Kreise, sondern extrem langgestreckte Ellipsen. Das bedeutet, dass der sonnenfernste Punkt ihrer Bahn weit außerhalb der einigermaßen gut bekannten Bereichen des Sonnensystems liegt. Die SDOs sind also quasi kosmische Entdeckungsreisende, die dorthin fliegen, wohin wir nicht schauen können. Sie kehren aber auch immer wieder in die bekannten Regionen zurück, wo wir sie dann mit unseren Teleskopen entdecken können. Eine Analyse ihrer Umlaufbahn und Eigenschaften ermöglicht uns dann Rückschlüsse auf das, was sie im äußersten Sonnensystem erlebt haben. Zum Beispiel Begegnungen mit einem noch unbekannten Planeten.
Anhand solcher extremen Asteroiden hat man 2016 auch die ersten konkreten Hinweise auf Planet 9 bekommen: Die Bahnen dieser Asteroiden waren nicht einfach irgendwie zufällig verteilt, sondern haben sich so um die Sonne angeordnet, als wären sie von der Gravitationskraft eines Planeten beeinflusst worden, der ungefähr zehnmal so schwer wie Erde ist und circa 500 mal weiter von der Sonne entfernt als sie. Nun haben Astronomen einen weiteren Asteroid entdeckt, der noch ein Stück extremer ist und ebenfalls Hinweise auf die Beeinflussung durch Planet 9 zeigt.
Extreme Neigungen
Der Asteroid wird von Juliette Becker von der Universität Michigan und ihren Kollegen beschrieben (“Discovery and Dynamical Analysis of an Extreme Trans-Neptunian Object with a High Orbital Inclination”). Er heißt 2015 BP519, hat eine große Halbachse von 450 Astronomischen Einheiten, eine Exzentrizität von 0,92 und eine Inklination von 54 Grad. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass der mittlere Abstand zwischen diesem Asteroid und der Sonne 450 mal größer ist als der zwischen Erde und Sonne! Es bedeutet, dass der sonnennächste Punkt seiner Bahn außerhalb der Bahn des Neptun bei etwa 35 AE liegt, der sonnenfernste Punkt sich aber bei erstaunlichen 863 AE befindet! Für einen Umlauf um die Sonne braucht 9514 Jahre. Das alles ist schon ziemlich extrem; noch extremer ist aber die Bahnneigung. Normalerweise befinden sich die Planeten und die anderen Himmelskörper des Sonnensystems alle mehr oder weniger in der gleichen Ebene. Die Asteroiden der gestreuten Scheibe weichen davon ab; das liegt daran, dass sie nicht von selbst dorthin gelangt sind, wo sie sich jetzt befinden sondern durch die gravitativen Störungen anderer Planeten dorthin “geschubst” worden sind. Das kann auch zu einer Erhöhung der Bahnneigung führen. Von allen bekannten “extremen” SDOs hat aber keiner so eine enorme Bahnneigung wie 2015 BP519 mit seinen 54 Grad. Und das macht die Sache interessant.
Schauen wir uns mal dieses Bild an:
Man sieht hier zuerst einmal eine rote Kurve. Sie stellt die Entwicklung der Bahnneigung des Asteroiden im Verlauf von 4,5 Milliarden Jahren dar. Die Kurve wurde berechnet, das heißt sie basiert auf (sehr komplizierten) mathematischen Gleichungen die sich aus der wechselseitigen gravitativen Beeinflussung der Planeten des Sonnensystems und des Asteroiden ergeben. Das nennt sich Störungsrechnung, ist nichts für schwache Nerven und in vielen Bereichen enorm praktisch, aber auch nie vollkommen exakt. Denn es gibt keine mathematisch exakte Vorhersage über die Bewegung von mehr als zwei Himmelskörpern für beliebig lange Zeiträume. Deswegen sind im Diagramm auch noch jede Menge graue Kurven eingezeichnet. Die wurden simuliert, das heißt, man hat ein numerisches Modell des Sonnensystems erstellt und dort mit Näherungsgleichungen die Bewegung aller Himmelskörper simuliert. Solche Simulationen sind tendenziell genauer als die Störungsrechnung, aber auch aufwendiger zu machen. Wie auch immer: Man sieht schön, dass beide Methoden gut übereinstimmen. Und man sieht, dass die hohe Bahnneigung von 2015 BP519 keine Anstalten macht, weniger hoch zu werden! Sowohl die rote als auch die graue Kurve schwankt zwar hin und her, wird aber nie geringer als 50 Grad.
Das sieht man auch hier noch einmal recht gut:
Hier sehen wir jetzt nur noch die reine Computersimulation der Bewegung von 2015 BP519. Am Modell haben Juliette Becker und ihre Kollegen die Dynamik des Asteroiden für 4,5 Milliarden Jahre in die Vergangenheit und 4,5 Milliarden Jahre in die Zukunft nachvollzogen. Oben sieht man die Entwicklung der Bahnneigung, darunter die Veränderung in der Exzentrizität, dann kommt die große Halbachse und ganz unten das Perihel (also der sonnennächste Punkt der Bahn). Jetzt fragen sich vielleicht einige, warum in jedem Bild ein ganzer Haufen Kurven zu sehen sind, wo es durch nur um einen einzigen Asteroid geht. Das ist ein völlig normales Vorgehen in der Himmelsmechanik: Da die Bewegung von Asteroiden immer tendenziell chaotisch ist und deswegen schon kleinste Unterschiede in den Anfangsbedingungen große Auswirkungen haben können, macht es keinen Sinn, nur ein einziges Objekt zu berechnen. Denn die Daten, die man in die Simulation steckt, stammen aus Beobachtungen und die sind immer ein wenig ungenau. Deswegen simuliert man nicht einen einzigen Asteroid, sondern quasi eine “Wolke” von Asteroiden, die sich um das eigentliche Objekt erstreckt. Je nachdem, wie unterschiedlich sich all diese Klone verhalten, kann man dann die Genauigkeit der Ergebnisse einschätzen.
In diesem Fall sehen wir, dass die einzelnen Klone sich im großen und ganzen ähnlich verhalten. Die Bahnneigung schwankt auch hier um ein paar Grad um 54 Grad herum. Die Exzentrizität bleibt ebenfalls immer hoch. Der sonnennächste Punkt der Bahn bleibt immer irgendwo bei 35 AE und rückt nie näher als 30 AE an die Sonne.
Warum so extrem?
Wir haben jetzt also fürs Erste folgenden Befund: Ein Asteroid der sich in die äußersten Regionen des Sonnensystems bewegt, hat eine extrem hohe Bahnneigung. Und die ist nicht nur zufällig jetzt gerade so hoch, sondern bleibt auch hoch, wenn man ein paar Milliarden Jahre in die Zukunft oder Vergangenheit schaut. Was die allgemeine Dynamik angeht, unterscheidet sich 2015 BP519 nicht sehr von anderen SDOs. Aber die große Bahnneigung bleibt ein Problem. Geht man davon aus, dass dieser Asteroid bei seiner Entstehung eine niedrige Bahnneigung hatte (was vernünftig ist, da alle Objekte des Sonnensystems aus der gleichen Scheibe an Material entstanden sind), dann braucht es einen Mechanismus, der den Asteroid auf diese stark geneigte Bahn gebracht hat. “Von selbst”, also nur durch den gravitativen Einfluss der Planeten geht das offensichtlich nicht, wie ja die numerische Simulation zeigt.
Juliette Becker und ihre Kollegen haben in ihrer Arbeit einige Methoden untersucht. Es kann sein, dass damals während der Entstehung der Planeten ein anderer Stern ziemlich nahe am jungen Sonnensystem vorbei gekommen ist und die Bahnen einiger Asteroiden durcheinander gebracht hat. Oder es kann sein, dass nahe Begegnungen mit Neptun zur Erhöhung der Bahnneigung geführt haben. Ersteres ist absolut plausibel, aber schwer konkret zu überprüfen. Zweiteres ist ebenfalls plausibel, aber im Fall von 2015 BP519 extrem unwahrscheinlich. In all den Computersimulationen gab es nur einen Klon, der ein entsprechendes Verhalten gezeigt hat. Bleibt eine dritte Möglichkeit: Planet 9!
Der sonnenfernste Punkt der Bahn von 2015 BP519 liegt weit außerhalb der hypothetischen Bahn von Planet 9. Das bedeutet, dass der Asteroid und Planet 9 sich nahe kommen können. Und wenn ein kleiner Asteroid in die Nähe eines großen Planeten kommt, dann sorgt die gravitative Wechselwirkung für Störungen, die die Bahn des Asteroiden verändern. Das zeigt sich vor allem in der großen Halbachse. Der mittlere Abstand zwischen Asteroid und Sonne “springt”, wie man in diesem Bild sehen kann:
In rot sind hier die Zeiträume markiert, in denen der Asteroid in die Nähe von Planet 9 kommt und man sieht wunderbar, welche Auswirkungen das auf die große Halbachse hat.
Dank Planet 9 auf Abwegen
Und die Bahnneigung? Wie die sich unter dem Einfluss eines Planet 9 verhält, kann man in diesem Bild sehen:
Was hier genau zu sehen ist, ist ein wenig schwer zu erklären. Man sieht hier sogenannte “action-angle”-Koordinaten. Das ist wieder eines der komplizierten Dinge aus der Störungsrechnung und es wäre interessant, das genau zu erklären; würde aber auch den Rahmen des Artikels deutlich sprengen. Wichtig sind zwei Dinge: Die Position des Asteroiden ist mit einem Stern gekennzeichnet. Und die grünen Linien zeigen, wohin er sich von dieser Position theoretisch hin entwickeln kann. “Position” ist hier abstrakt zu verstehen, die beiden Koordinaten im Diagramm sind keine Koordinaten im realen Raum sondern hängen von den Eigenschaften der Bahn ab. Die y-Koordinate wird unter anderem durch die Bahnneigung bestimmt und darauf kommt es an! Man sieht sehr gut die vielen grünen Linien, die quer durch das ganze Diagramm führen und das bedeutet – etwas vereinfacht – dass die Bahnneigung des Asteroiden unter dem Einfluss des Planet 9 jeden Wert für die Bahnneigung annehmen kann.
Wo führen diese Überlegungen hin? Nicht zu einer “Entdeckung” von Planet 9; dazu braucht es reale Beobachtungen des Planeten selbst und keine Computersimulationen eines Asteroiden. Aber die ausführliche Untersuchung von 2015 BP519 durch Juliette Becker und ihre Kollegen zeigt uns, dass dieser extreme Asteroid sehr gut zur Existenz eines Planet 9 passt. Seine Bahn ist extrem und zwar mit konventionellen Ansätzen durchaus erklärbar. Mit der Anwesenheit von Planet 9 ist sie aber ein wenig einfacher und eleganter erklärbar. Wir bräuchten mehr extreme Asteroiden! Im inneren Sonnensystem kennen wir mehr als eine halbe Million Asteroiden; in der Region der gestreuten Scheibe sind es keine tausend. Und von den extremen SDOs haben wir kaum mehr als ein Dutzend entdeckt. Wir brauchen mehr Asteroiden, deren Bahnen in die unbekannten Bereiche des Sonnensystems führen! Dann können wir auch besser abschätzen, wie wahrscheinlich die Existenz von Planet 9 tatsächlich ist. Und vielleicht auch konkret berechnen, wo sich das Ding befinden muss, um all diese Asteroiden so zu beeinflussen, wie es der Fall zu sein scheint. Und wenn wir das wissen, dann wissen wir auch, wohin wir unsere Teleskope richten müssen, um Planet 9 endgültig von der Hypothese zur Realität zu machen!
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