Auch die verschiedenen medizinischen Disziplinen werden ungeheuer profitieren. Hier nur einige Beispiele:
- medizinische Humangenetik: man wird eine vollständige Detektion von Mutationen im Erbgut ermöglichen können und in einem Aufwasch alle (jeweils bis dato bekannten) Erbkrankheiten oder Anlagen dafür, die ein Mensch in sich trägt, entdecken können; im Gegensatz zur Sanger-Sequenzierung kann NGS zudem auch Strukturvarianten von DNA-Abschnitten und seltene Allele bestimmter Loci entdecken: der Blick der Genetik auf das Genom wird also wesentlich schärfer.
- Pharmakogenomik: man wird ganz genau erheben können, welche Enzymvarianten und damit metabolische Besonderheiten ein Mensch besitzt, ob und wie er also auf bestimmte Medikamente reagiert und so wird man jedem Patienten eine personalisierte, also auf ihn zugeschnittene Medikation verabreichen können
- Reproduktionsmedizin: Es ist bereits möglich, mittels NGS aus einer einfachen Blutprobe einer Schwangeren schon in einem sehr frühen Schwangerschaftsstadium eine komplette Untersuchung des Fötus’ auf Erbkrankheiten durchzuführen. Man braucht dafür also keine gefährliche Prozeduren, wie eine Amniozentese mehr durchzuführen und kann viel früher zu Ergebnissen kommen
- Onkologie: man wird das Genom einer Krebszelle so genau wie nie zuvor untersuchen und so viel besser verstehen können, was in der entarteten Zelle „falsch läuft” und welche Schäden ihr Genom schon genommen hat; so wird man auch ihre „Schwächen” erkennen und eine viel gezieltere und damit wirksamere und deutlich nebenwirkungsärmere Therapie ermöglichen können
- Epigenetik: Man versteht zunehmend, wie wichtig epigenetische Regulationsmechanismen bei sehr vielen biologischen und medizinischen Zusammenhängen sind; Krebs ist nur einer davon und NGS lässt sich auch mit der Bisulfit-Behandlung oder ChIp (s. hier für die Interessierten), Methoden also, die man zur Untersuchung epigenetischer Modifikationen verwendet, kombinieren und so wird eine Untersuchung des gesamten Epigenoms einer Zelle möglich sein
Man könnte also sagen: durch NGS wird man imstande sein, Fragen zu beantworten, die wir zuvor nicht einmal hätten stellen können!
Probleme und Einschränkungen
Noch hat NGS einige Einschränkungen: seine Genauigkeit „pro Buchstabe” ist geringer als die der Sanger-Methode (das wird jedoch durch die Mehrfachlesung der Sequenzen gut ausgeglichen). Außerdem ist NGS sehr teuer (ab 400.000 $ nur für das Gerät bis zu 1,3 Mio.$) und extrem aufwendig (man benötigt enorme Rechenleistung und Speicherkapazität für das gigantische Datenaufkommen und grundsätzlich eine bioinformatische „Infrastruktur”, um die entstehende Datenflut bewältigen zu können). Deshalb können sich derzeit nur wenige Institute eine “NGS-Station” leisten. Aber diese Probleme sind technischer Natur und man wird sie in absehbarer Zeit und mit mehr Wettbewerb zwischen den Herstellern in den Griff bekommen. Sie werden den Siegeszug des NGS jedenfalls nicht aufhalten.
Schwieriger und heikler wird es, wenn man sich mit den medizinethischen Fragen, die das NGS aufwerfen wird, befasst: man muß sich vergegenwärtigen, welche gewaltige Informationsmenge die Komplettsequenzierung des Genoms eines Menschen erschließt und daß darin alles über die genetischen Grundlagen eines Menschen zu finden ist, wenn man weiß, wo man schauen muß. Dazu gehören nicht nur Dinge wie Augen- und Haarfarbe, Geschlecht und Blutgruppe, sondern eben auch Anlagen für Krankheiten und (in bestimmtem Ausmaß) sogar für Eigenschaften.
Hier nur einige der Probleme/Fragen, die sich beim medizinischen Einsatz des NGS ergeben könnten:
- ist für Patienten, deren Genom mittels NGS analysiert wird, eine informierte Einwilligung überhaupt möglich, wenn selbst der Arzt/Genetiker, der die Daten erzeugt, nicht weiß, was sie bedeuten?
- Sollten Patienten informiert werden über Befunde ohne klinische Signifikanz oder über Befunde, die ernste aber unbehandelbare Krankheiten anzeigen oder über Befunde, die nicht für sie, aber für Familienmitglieder bedeutend sind (und umgekehrt)?
- Sollten Patienten informiert werden über zufällige Befunde, die ernste Krankheiten ankündigen, die aber bei früher Erkennung behandelbar sind?
- Sollten Patienten informiert werden über zufällige Befunde, die ein erhöhtes Risiko für Krankheiten anzeigen, die bei früher Entdeckung verhindert werden können?
- Sollten Patienten über Befunde ohne medizinische aber mit sozialer Bedeutung informiert werden? Beispiel: Vater und Sohn werden auf Prädispositionen für Prostatakrebs untersucht und es kommt nebenbei heraus, daß der Vater gar nicht der leibliche Vater ist.
- Sollten Patienten über Befunde ohne medizinische aber mit genereller Bedeutung (z.B. SNPs, die mit musikalischer Begabung assoziiert sind) informiert werden (um z.B. eine frühe Förderung ermöglichen zu können)?
- Was passiert, wenn durch neue Forschungsergebnisse Sequenzdaten eines früher behandelten Patienten zuvor unbekannte medizinische Implikationen bekommen?
- Wer lagert die Genomdaten, wer hat Zugriff darauf, wie wird der Zugang geregelt und wer bezahlt die Lagerung?
Bei aller durch die kaum fassbare Herausforderung des Erkenntnisgewinns durch NGS gebotenen Vor- und Umsicht, zu der ich mich ausdrücklich bekenne, hoffe ich doch, daß die deutsche Politik hier nicht, wie es sonst bei der Eröffnung neuer biomedizinischer Horizonte nahezu Reflex ist, sich dem ohnehin unaufhaltsamen Fortschritt verschließt und durch rigide, unsachgemäße und im schlimmsten Fall religiös motivierte Gesetzgebung die Forschung und Arbeit mit und an NGS be- oder gar verhindert. So war/ist es schon bei den Stammzellen, ein weiteres Beispiel ist das beschämend schlechte Gendiagnostikgesetz von 2010 und bei NGS für medizinische Anwendungen würde diese gern geübte fortschrittsfeindliche Verweigerungshaltung wie bei anderen medizinischen Verfahren zuvor dazu führen, daß Wohlhabende ihre z.B. durch NGS ermöglichte personalisierte Krebstherapie dann eben im Ausland erwerben und Arme hierzulande trotz vorhandenen Wissens und Könnens vermeidbar leiden und sterben müssten.
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