Liebe Leonora,
leider gibt es Dich noch gar nicht, aber wenn es Dich schon geben würde, würdest Du vielleicht so heißen, nach einer Figur aus den Gedichten von Edgar Allan Poe.
Ich möchte Dir aber doch schon heute einen Brief schreiben, um Dir zu erzählen, was ich über Frauen weiß und was vielleicht auf Dich zukommt, weil Du eine Frau werden wirst.
Ich kann Dir leider nicht versprechen, daß man Dich gleich gut behandeln wird, wie einen Mann. Es könnte sein, daß Du weniger verdienen wirst für die gleiche Arbeit, daß Dir Chancen nicht gegeben werden, daß man Dich unterschätzt, nur weil Du eine Frau bist. Es ist traurig, aber es ist wahr. Das Gesetz garantiert zwar uns allen gleiche Rechte und Chancen und mißt allen Menschen den gleichen Wert zu, aber wie so oft sind Gesetze ideal und Menschen, die sie nicht achten, unideal – aber dafür real.
Es muß ja wohl an den Unterschieden zwischen Männern und Frauen liegen, daß die einen benachteiligt werden, oder? Über diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern ist schon so viel geschrieben worden und ich habe oft über diese Unterschiede nachgedacht und nicht nur ich allein, denn diese, offenbar auf die verschiedensten Weisen wahrgenommenen Unterschiede inspirieren immer noch und wieder populäre Kabarettprogramme, Ratgeberbücher, dumme Sprüche und fade Klischees, Manifeste und mehr oder weniger gute Romane und Filme und alle diese finden auch immer noch ihr Publikum. Heißt das nun, daß diese Unterschiede wirklich so groß oder bedeutend sind? Oder glauben nur mittlerweile die meisten, es wäre so und sehen in der karikaturhaften Darstellung und komödiantischen Verwurstung derselben eine Bestätigung und Anregung, diese Unterschiede geradezu zu suchen, mit ihnen zu kokettieren und sie vielleicht sogar stärker an sich selber zu betonen, als sie es sonst tun würden?
Ich weiß es nicht, bin aber gespannt, zu erfahren, wie Du das eines Tages sehen und erleben wirst. Was ich weiß, ist, daß Frauen und Männer nicht gleich sind und ich finde, man sollte sie nicht gleich zu machen versuchen. Biologisch sind sie nämlich und natürlich verschieden und gerade ihre Verschiedenheit ist oft Grundlage dafür, daß sie einander anziehen. Selbstverständlich sind Männer und Frauen aber gleich viel wert, waren es immer und hätten einander immer so behandeln sollen. Leider wurden Frauen die längste Zeit und werden auch heute noch an vielen Orten auf der Welt schlecht(er) behandelt, klein, dumm und fern von Bildung und Einfluss gehalten, als minderwertig, unzulänglich, unwichtig und unberechtigt angesehen, ausgegrenzt, bevormundet, unterdrückt, und sogar verstümmelt – und zwar von Männern.
Noch schlimmer und zynischer aber ist, daß das dazu geführt hat, daß viele Frauen diese Haltung zu ihrem eigenen Geschlecht übernommen haben, weil sie nie eine Alternative kennengelernt und von kritischem Denken und einem gesunden und frohen Einverstandensein mit ihrem Geschlecht mutwillig abgehalten wurden und viele, selbst manche “modernen” Frauen denken heute noch so, nämlich gering(er) von sich und ihrem Geschlecht. Das ist eine entsetzliche Schande, eine schlimme, entwürdigende Entstellung im Antlitz der Menschheit und ich finde es unerträglich!
Es besorgt mich ein wenig, daß ich Dich eines Tages in diese Welt werde ziehen lassen müssen; ich kann Dir nur versprechen, daß ich alles tun werde, um zu verhindern, daß Dir so etwas passiert. Ich werde Dich lehren, Dir niemals wegen Deines Geschlechts irgendetwas nicht zuzutrauen oder Demut zu empfinden oder eine Rolle zuweisen zu lassen, die Du nicht ausfüllen willst.
Oft habe ich versucht, mir auszumalen, wie die Welt heute aussehen würde, wenn zu allen Zeiten die Frauen den gleichen Anteil, das gleiche Ansehen und die gleichen Möglichkeiten in Politik, Wissenschaft, Kunst, Literatur, Philosophie und, ja, der Gestaltung der Welt und dem Fortkommen der Menschheit gehabt hätten. Meistens macht mich allein der Versuch so wehmütig, daß ich gleich wieder damit aufhöre. Ich bin kein Freund allzu märchenhafter Utopien, aber ich glaube fest, die Menschheit wäre viel weiter und diese Welt wäre ein besserer, gerechterer und schönerer Ort – für alle.
Kommentare (54)