Weiter ging es mit der „funktionellen Dreigliederung“ des Menschen in ein Sinnessystem (für das Denken zuständig, im Kopf), ein rhythmisches System (für das Fühlen, Lunge und Herz) und ein Gliedmaßen-Stoffwechsel-System (für das Wollen, im Bauch). Ob uns eine Verbindung zu Pflanzen auffalle, wollte die Dame wissen. Prompt meldete sich eine eifrige Seminarteilnehmerin und befand, dass es bei den Pflanzen ja genau umgekehrt sei: die Blüte sei das Gliedmaßensystem und wachse nach oben, die Wurzel sei das nach unten gerichtete Nervensystem. Deswegen, ergänzte die Seminarleiterin sogleich, sei es ja wohl selbstverständlich, dass Blüten vornehmlich für Bauch- und Wurzeln vor allem für Nervenleiden verwendet würden. Dieses dreigliedrige System habe für Schulmediziner ja ohnehin keinerlei Bewandtnis, erzählte sie weiter: wenn eine Patientin mit Schwangerschaftsübelkeit zum Arzt gehe, sage er ihr nur: „Das kann ich Ihnen erklären, das sind die Hormone. Tschüß!“, ohne zu bemerken, dass die Organe des Körpers miteinander in Verbindung stünden.
Der Anthroposoph hingegen erkenne, dass das Baby den „Energiebereich“ im „Wollen“ nach oben drücke und damit die beiden anderen Systeme beeinflusse, mit Hormonen habe das erstmal nichts zu tun. Im Gegensatz zum „Schulmediziner“ bemühe er sich um eine anständige Anamnese, um anschließend ein Medikament zu finden, das helfe.
Nun folgten einige Informationen über die anthroposophische Medizin an sich; diese sei eine Methode der komplementären, also ergänzenden Medizin. Diesem Begriff stand sie zwar sichtlich ablehnend gegenüber, seine Verwendung stelle jedoch sicher, dass keiner „daherkommen und sagen kann, das ist Scharlatanerie: es ist eine anerkannte Heilmethode, verordnungs- und abrechnungsfähig.“ Sie selbst sei allerdings von einem Besuch bei der Frauenklinik in Herdecke enttäuscht zurückgekehrt – dort gelangten leider nicht ausschließlich anthroposophische Methoden zur Anwendung (wie Heileurythmie mit Frauen im Wochenbett), sondern auch „schulmedizinische“. Wenn es nach den Anthroposophen ginge, sei zum Beispiel eine Geburtseinleitung von außen gar nicht angebracht, das Kind komme schon, wenn es das wolle.
In die Welt der anthroposophischen Medizin gehören vor allem die anthroposophischen Arzneimittel, die sich entsprechend der Wesensgliederlehre zusammensetzt aus mineralischen (zum Beispiel das hochgiftige Antimon, das, wenn man es genau nimmt, gar kein Mineral ist – was aber vernachlässigt wurde), pflanzlichen und tierischen Substanzen (beispielsweise Waldameisen oder „Lacaninum“, die Milch der erstmals trächtigen Rottweilerhündin). Diese, so wurde stolz berichtet, würden im Labor in Handarbeit verschüttelt. Das Prinzip unterscheide sich jedoch von der Homöopathie: bei der Anthroposophie komme es darauf an, dass das Medikament mit dem oben bereits erwähnten rhythmischen Zentrum, dem „Motor“ des rhythmischen Systems, synchronisiert werde. Dieser Rhythmus, der durch Schütteln auf das Wasser übertragen werde, finde durch das Medikament den Weg in den Körper des Patienten. Die so genannte „Rhythmisierung“ dauere über eine Stunde, danach werde das „Medikament“ gegebenenfalls. ins Dunkel, dann wieder ans Tageslicht, nochmals ins Dunkel und anschließend wieder ins Licht gelegt. Diese Prozedur dürfe nur von „fitten“, hormonell intakten Mitarbeitern durchgeführt werden, dafür trage man Sorge. Vor der Rhythmisierung werden die Medikamente entweder nur verdünnt oder speziell präpariert: man begieße beispielsweise eine Kamillenwurzel mit Kupfer, kompostiere die daraus entstandene Pflanze und wiederhole diese Prozedur auf der „Kupfererde“ drei Jahre lang, bis sich „das Kupfer mit der Wurzel verbunden“ habe. Aus der so entstandenen Wurzel werde dann beispielsweise eine D3-Verdünnung hergestellt.
Dabei ist den Anthroposophen die Differenzierung gegenüber der Homöopathie besonders wichtig: es werde hier nicht Ähnliches mit Ähnlichem geheilt, sondern es erfolge vielmehr eine „Heilmittelauswahl gemäß den Besonderheiten der Krankheit und den entsprechenden Naturprozessen“, dabei handele es sich um eine „Weiterentwicklung der klassischen Signaturenlehre“. Oder, um es mit den Worten der Seminarleiterin auszudrücken, die „Pflanze will mir sagen, wozu sie gut ist“. So helfe der Verzehr von Walnusskernen aufgrund des ähnlichen Aussehens bei Hirnbeschwerden. Wie willkürlich diese Prinzipien angewandt werden, zeigt sich im Beispiel des anthroposophischen Beruhigungsmittels „Avena sativa comp.“ – darin befinde sich anthroposophisch zubereiteter Hopfen und Baldrian sowie der namengebende Hafer. Zusätzlich allerdings enthalte dieses Medikament homöopathisch zubereitete Kaffeebohnen, die nach dem Simile-Prinzip arbeiten und „Gleiches mit Gleichem heilen“ sollen – während die anderen Wirkstoffe das aus irgendeinem Grund nicht tun.
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