Von Abrechnungsratschlägen und zertifizierten Fortbildungen
Das Gespräch mündete in eine Plauderei über die Eigenheiten von Patienten und Ärzten. Es könne ja wohl nicht angehen, das Kinder bei jedem Sturz Arnika-Globuli bekämen. Damit würde den Kindern die Botschaft vermittelt, dass diese völlig harmlos seien! Auch homöopathische Kinder-Apotheken seien grob fahrlässig, es befänden sich immerhin Gifte darin.
Die Ablehnung von Homöopathika für Kinder kann man durchaus teilen, doch die Argumentation hier ist ganz absurd und zeugt von fehlendem naturwissenschaftlichen Verständnis der am Gespräch beteiligten Hebammen.
Auf die kritische Berichterstattung, mit der die Homöopathie-Szene in letzter Zeit konfrontiert wurde, wurde ebenfalls eingegangen. „Wir wissen, dass es nicht so ist, dass wir Frauen mit Globuli überschütten. Besser wir verschreiben sie, als dass die Frauen sich im Internet welche suchen.“ In jedem Fall sei eine homöopathische Verschreibung auch einer „schulmedizinischen“ vorzuziehen: kleinen Kindern Paracetamol zu verabreichen sei „ja wohl absurd“.
Zum Schluss der theoretischen Einführung, also bevor sich das Seminar vollständig in eine Werbeveranstaltung für der Reihe nach abgehandelte Weleda-Medikamente, verwandelte, gab es ein paar hilfreiche Abrechnungstipps. Da anthroposophische Medikamente, die von Hebammen verschrieben werden, mit den Krankenkassen abrechenbar sind, bat die Seminarleiterin die teilnehmenden Hebammen, den Patientinnen keine angebrochenen Packungen mehr zu schenken. Es müsse jede einzelne Packung mit der Krankenkasse abgerechnet werden, damit diese nicht zur Auffassung gelangten, dass keine Nachfrage mehr bestehe und man die Medikamente nicht mehr finanzieren müsse. Einige Steuertipps später begann die Mittagspause, in welcher, für den günstigen Unkostenbeitrag von 20 Euro pro Person, Sanddornsaft probiert und Broschüren durchgeblättert werden konnten. Sanddorn enthalte unglaublich viele B-Vitamine, erklärte die Weleda-Dame (was natürlich nicht stimmt, Sanddorn ist lediglich reich an Vitamin C), sie bereite all ihre Speisen, auch die ihrer Kinder, damit zu. Ob bei so hoher Exposition nicht eine Gefahr der Überdosierung bestehe, fragte ich vorsichtig. Nein, davon habe sie noch nie gehört, das gebe es nicht, man könne B-Vitamine nicht überdosieren (was natürlich auch nicht stimmt).
Neben der besorgniserregenden Naivität der teilnehmenden Hebammen fand ich auch die völlig unkritische Darstellung der esoterischen Konzepte anthroposophischer Medizin erschreckend. Mir war klar, dass jede der Teilnehmerinnen ihr neu gewonnenes „Wissen“ sofort zur Anwendung bringen würde, weil es für sie keinerlei Zweifel an dessen Richtigkeit geben konnte. Zudem war die Seminarleiterin medizinisch und chemisch nicht sehr gebildet, weshalb sie auch nicht davor zurückschreckte, ihren Kolleginnen frei Erfundenes, Willkürliches und wilde Mutmaßungen als Fakten vorzusetzen – sicherlich eine Folge der Tatsache, dass wissenschaftliches Denken und logische Beweisführung in diesem Feld keine Rolle spielen und keinen Wert darstellen. Welche verheerenden Wirkungen das haben kann, lässt sich durch einen Blick auf die anschließend durchgearbeitete Medikamentenliste erahnen. Hier werden völlig wirkungslose Mittel für fiebernde Schwangere und Kleinkinder empfohlen. Infekte und Entzündungen des Mittelohrs, Ekzeme bei Neugeborenen, Angst- und Gleichgewichtsstörungen, ja sogar eine erhöhte Abortneigung sollen mit anthroposophischen Mitteln therapiert werden. Weitere Indikationen – die im Übrigen bei solchen Arzneimitteln gar nicht angegeben werden dürfen – sind „Schmerzzustände bei Schwächung der Lebenskräfte“, „Eingliederung verselbstständigter Stoffwechselprozesse“, „Harmonisierung des rhythmischen Systems im Stoffwechselbereich“ sowie „Stabilisierung des Wesensgliedergefüges bei nervöser Erschöpfung“.
Darüber hinaus erachte ich es als verhängnisvoll, dass solche Seminare von Hebammenverbänden empfohlen und mitunter als Fortbildungsveranstaltungen im Rahmen der gesetzlichen Fortbildungspflicht für Hebammen anerkannt werden. Somit wird dieser völlig unwissenschaftliche, unter Umständen gefährliche Unfug nicht nur salonfähig, sondern sogar zu einem Teil der Hebammenausbildung gemacht. Dies stellt natürlich einen unschlagbaren Vorteil für Firmen wie Weleda dar, welche sich damit der Verbreitung ihrer Produkte sicher sein können.
Die Situation in Deutschland ist also verfahren. Es ist geradezu absurd, wie die Verfechter von Methoden, für die bis heute keine relevanten wissenschaftliche Belege existieren, mit Unterstützung aus Politik, Pharmazie und Medizin bis zum heutigen Tag die evidenzbasierte Medizin ausbooten und dadurch unter Umständen sogar Menschenleben gefährden können.
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