Mein Lieblings-Mathematikerwitz: An seinem Lebensabend in Rückschau auf eine große Karriere wird ein Schriftsteller, der sich auch als Maler, Bildhauer, Regisseur und Philosoph betätigt hatte, gefragt, ob er nicht auch Mathematiker hätte werden können. „Nein“, antwortet er, „dafür fehlt mir die Phantasie.“ *
Ich erinnere mich noch ans erste Semester Biologie. Bei der Begrüßung der Erstsemestler forderte uns der Professor auf, unseren Nebenmann noch einmal anzuschauen, denn mit höchster Wahrscheinlichkeit sitze diese/r in einem halben Jahr dort nicht mehr (und im Fall meines Nebensitzers sollte er sogar recht behalten). Ich wunderte mich über eine solche Ansage und fragte mich zugleich, wie die Uni es wohl schaffen wollte, 50% der StudentInnen zu vergraulen. Die Antwort: mit Mathe. Die obligatorische Mathematikvorlesung wurde von einem stets von der offenbar als Zumutung empfundenen Verpflichtung, den Biologieaspiranten Mathematik einzutrichtern, leicht angesäuert wirkenden, älteren Professor gehalten. Als es ihm einmal im Hörsaal mit hunderten Studenten zu laut war, schaltete er sein Mikro ab und ließ es dann auch gleich für den Rest des Semesters aus, so daß er über die ersten drei Reihen hinaus nicht zu hören war. Er benutzte keine Powerpointpräsentation oder Folien, nein, er schrieb mit Filzstift auf die Endlosfolie eines Tageslichtprojektors und zwar schnell und viel (ich schrieb im Schnitt 20 Seiten pro Vorlesung mit). Am Ende des Semesters stand die Klausur und auch jene 50%-Hürde: die Hälfte der Teilnehmer scheiterte daran und ein Gutteil war davon dermaßen ernüchtert, daß er die Biologie sein ließ. Ich gehörte zu denen, die bestanden aber ich hatte auch nie zuvor in meinem Leben soviel Mathematik gelernt und geübt.
Und genau da liegt das Problem: Wir brauchen die Mathematik ganz besonders in den Naturwissenschaften und auch die Biologie bildet da keine Ausnahme! Dennoch scheint es in den biologischen (und biomedizinischen) Disziplinen ein Problem mit dem Zugang zur Mathematik zu geben. In der Zeitschrift PNAS erschien ein Artikel (s.u.), der belegt, daß die Häufigkeit, mit der eine Arbeit zitiert wird, umgekehrt proportional zur Anzahl der darin verwendeten mathematischen Formeln ist: jede zusätzliche Formel im Text reduzierte die Zitationsrate um 28%! (Anmerkung: die Zitationsrate ist eine auch für die Karriere eines Wissenschaftlers wichtige Kennzahl für die Bedeutung einer Veröffentlichung). Ein Kommentar zum Artikel drückte es noch deutlicher aus: „Mathematische Unbildung behindert den Fortschritt in der Biologie“.
Ich könnte dem nicht energischer zustimmen: ohne die Kenntnis mathematischer Konzepte ist ein profunder Zugang zu vielen Bereichen der Biologie kaum bis unmöglich. Es heißt ja z.B., nichts in der Biologie ergibt einen Sinn, außer im Licht der Evolution und weiter, nichts in der Evolution ergibt einen Sinn, außer im Licht der Populationsgenetik. Populationsgenetik aber ist undenkbar ohne den umfangreichen mathematischen Unterbau. Doch auch im Labor, bei den meisten molekularbiologischen Datenauswertungen (aktuelles Beispiel: NGS), zur Prüfung seiner Ergebnisse und bevor man sie veröffentlicht sowie derer von anderen, wenn man sie begutachtet, muß man rechnen bzw. Gerechnetes verstehen können. (Ich selber nehme deshalb auch keinen Biologen ernst, der nicht wenigstens die Grundbegriffe der Stochastik und besonders Statistik kennt, nerve meine Doktorandinnen mit Bayes und bin stets selber bemüht, meine Lücken zu schließen und in Übung zu bleiben.)
Doch daran hapert es schon bei den Anfängern. In einer zehn Jahre überspannenden Studie untersuchten Llamas et al. die mathematischen Fähigkeiten von Studienanfängern in einem Kurs für Pflanzenphysiologie (s.u.) und konnten nachweisen, daß der Anteil richtiger Antworten in Tests umso niedriger, je mehr für die Lösung einer Aufgabe die Anwendung mathematischer Fähigkeiten und Berechnungen notwendig war. Dabei erlaubte das Abschneiden eines/r Studierenden bei solchen mathematischen Aufgaben, die nur 14% aller Aufgaben ausmachten (und keine höheren Diskriminierungskoeffizienten aufwiesen (0,27 gegen 0,29)), eine gute Vorhersage seiner/ihrer Abschlussnoten.
Man sieht also, daß der Erwerb bzw. die Pflege und Erhaltung mathematischer Kenntnisse und – noch besser – Souveränität nicht nur als Berufswissenschaftler, sondern bereits als StudentIn wichtig ist. Leider aber wird Mathematik und ihr Lernenmüssen oft als Zumutung empfunden, wodurch nicht selten ein Widerwille und dadurch Widerstand dagegen erzeugt wird, sich mit ihr zu befassen und wirklich auch jenseits bloßer Pflichterfüllung („bis zum Schein“) auf sie einzulassen. Der Ursprung ihrer geringen Beliebtheit und des „Bitte-nicht-schon-wieder!“-Empfindens bei vielen StudentInnen dürfte häufig an den wachgerufenen Erinnerungen an leidige Begegnungen im pädagogisch minderwertigen Unterricht in der Schule liegen, wodurch der unbeschwerte Zugang zur Mathematik schon früh verschüttet worden ist. Die Folgen dessen können sich dann durch eine ganze Bildungskarriere hindurchziehen.
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