Für viele wissenschaftliche Erklärungs- oder Deutungsmodelle existieren heute und zum Teil schon seit Ewigkeiten esoterische Gegenentwürfe: die Astrologie behauptet beispielsweise, die Konstellation kosmischer Objekte habe einen Einfluss auf das Schicksal der Menschen, die Homöopathie sieht in Verdünnungen eine Potenzierung und erwartet höchste Wirksamkeit aus Nichts, die noch junge und diffuse Quantenesoterik schließlich (mein Sammelbegriff für die gesammelte Scharlatanerien, die irgendwo in ihren Dienstleistungsbeschreibungen den Begriff „Quanten“ untergebracht haben, seien es Quantenheilung, Quantenreinigung oder der Vertrieb von Atlantis-Matrix-Quanten-Delphinen) bietet für so ziemlich jedes Problem eine Lösung an. Aber auch die “traditionelle chinesische Medizin” (TCM) gehört ganz sicher in die Reihe nutzloser bis gefährlicher und ganz gewiss bizarrer Esoterikverfahren und im heutigen Gastbeitrag erklärt Claudia Graneis, warum.
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Zwischen uralten Heilsversprechen und Tierexkrementen
Apothekenerfahrungen mit Traditioneller Chinesischer Medizin
von Claudia Graneis
Offenbar wird es unter Kunden und Patienten immer salonfähiger, nicht von Erfolgen neuester medizinisch-pharmazeutischer Entwicklungen zu profitieren, sondern stattdessen auf 2000 Jahre altes Wissen aus Fernost zu vertrauen. So viel Erfahrung kann ja nur Gutes hervorbringen, oder? Die TCM erlebt ihr Revival im Westen und hat längst den Ruf einer sanften “Wellness-Medizin”. Auch Apotheken können davon profitieren, ein TCM-Labor einzurichten: da solche noch verhältnismäßig selten sind, gehen von allen Seiten entsprechende Rezepturen ein, die zu teuren Tees umgesetzt werden können.
Doch was steckt wirklich dahinter? Was wird behauptet und versprochen – und wie sieht die Bilanz aus? Ist Traditionelle Chinesische Medizin am Ende sogar gefährlich? Was ist TCM überhaupt?
Die einen sagen, sie habe ihren Ursprung im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Damals erschien das Werk „Klassiker der Wurzeln und Heilkräuter des gestaltenden Landmanns“ von Shen Nong Ben Cao Jing. Dabei handelte es sich um eine Art Arzneibuch, das über 300 Drogen detailliert beschrieben und zum ersten Mal so eingeteilt hat, wie es in der heute praktizierten chinesischen Medizin noch immer Usus ist. Die heutige TCM orientiert sich an der jahrtausendelang in China gepflegten, an fernöstliche Philosophie angelehnten Heilkunde.
Die anderen sagen, daß das, was wir heute unter TCM verstehen, das Produkt der Mao-Ära und ein gezielter Marketingzug der Regierung Chinas sei. Das scheint die wahrscheinlichere Variante zu sein – sind doch die alten Schriftstücke heute nicht mehr erhalten und haben eher Legendenstatus. Das Bild des weisen, bärtigen chinesischen Heilers, der in philosophischer Laune und nach jahrzehntelanger Erfahrung in seinem Sessel sitzt und seine Erkenntnisse niederschreibt, birgt eine gewisse Romantik, für die westliche Kunden offenbar empfänglich sind. Der Welt der hektischen und stets beschäftigten Ärzte und der „harten“, „chemischen“ Medikamente überdrüssig, sehnen sich viele nach einer „ganzheitlichen“ Medizin, die Körper und Seele endlich wieder eint. Das hat man in den 1950er und 60er Jahren offenbar geahnt im Reich der Mitte und setzte eine Kommission ein, die daran arbeitete, die gar nicht so harmonischen Therapiekonzepte der chinesischen Medizin zu vereinen, vom gröbsten Irrsinn zu befreien und westkompatibel zu machen. Ein anderer Impuls für diese Entwicklung war die Notwendigkeit, die ländliche Bevölkerung ärztlich zu versorgen: viele im Schnellverfahren zu TCM-„Ärzten“ (sog. Barfußärzte) ausgebildete Menschen wurden in abgelegene Gegenden entsandt und sorgten so für eine wenigstens provisorische medizinische Versorgung, die auch mit den westlichen Methoden, die inzwischen von vielen Bürgern der Volksrepublik bevorzugt wurden, verbrämt worden war.
Grundprinzipien: Yin, Yang und Qi
Den Heilmethoden liegen philosophisch-metaphysische Konstrukte zugrunde. Das wohl auch bei uns bekannteste ist die Idee von Yin und Yang, von der Einheit zweier Gegenpole. Yin und Yang dominieren in diesen Vorstellungen Mensch und Natur, beeinflussen einander und sind ineinander transformierbar. Durch diese Transformation entsteht das Qi, das gern, aber vermutlich nicht ganz richtig als „Lebensenergie“ verstanden wird. Wörtlich übersetzt heißt es „Speisedampf“ und in der asiatischen Kampfkunst wird es als ein ätherischer Lebensatem verstanden. Das Qi konstituiert den Kosmos und regt das Leben und all seine Funktionen an, wobei es verschiedene Unterarten gibt (für Abwehr oder die einzelnen Organe). Zudem wird in geerbtes, vorgeburtliches Qi (das bis zum Tode in den Nieren verweilt) und durch Nahrung und Atemluft selbst produziertes, nachgeburtliches Qi unterteilt. Ist alles davon verbraucht, stirbt der Mensch. Das Qi muß frei fließen können, sonst resultieren Krankheit und Leid.
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