Einer meiner Forschungsschwerpunkte, den wir als „molekulare Ballistik“ bezeichnen, befaßt sich, ich habe hier ja schon öfters darüber berichtet und auch darüber geslammt, mit der molekularbiologischen Analyse von Spuren, die beim Einsatz von Schußwaffen gegen biologische Ziele entstehen.
Oft, wenn ich darüber spreche, werde ich gefragt, ob das denn überhaupt nötig sei und warum wir denn eigentlich daran forschen, denn in Deutschland spielten Schußwaffen und Schußwaffendelikte doch eigentlich kaum eine Rolle.
Darauf ist zu erwidern, daß erstens auch in Deutschland Millionen (!) von Schußwaffen im Umlauf sind, von einer starken (nur nicht ganz so NRA-mäßig plakativen) Waffenlobby (mit DSB, prolegal u.a.) geschützt und jährlich von vielen Hunderten zum Suizid und von ~ 50 für Mord verwendet werden und zweitens Forschung immer auch international zu denken ist und unsere Erkenntnisse selbstverständlich auch in anderen Ländern genutzt werden, Länder, wie es die USA eines sind wo es eine regelrechte Epidemie von Tod durch Schußwaffen gibt.
Die wahrhaft erschütternden Zahlen kann man dort drüben genauer nachlesen, doch wie schwindelerregend hoch diese Zahlen wirklich sind, läßt sich anhand eines Vergleichs besser verstehen: Alle zwei Jahre sterben mehr Amerikaner durch Schußwaffen, als insgesamt in 20 Jahren Vietnamkrieg umgekommen sind, also über 60.000! Eine Graphik zeigt, wieviele Amerikaner jedes Jahr sterben (rote Balken)/nicht sterben (grüne Balken) müßten, wenn die Sterberate durch Schußwaffen vergleichbar wäre mit derjenigen in verschiedenen Ländern:
Bei einer Rate wie in Deutschland (Zahlen von 2012), wo die Wahrscheinlichkeit, erschossen zu werden, so hoch ist, wie von einem fallenden Objekt erschlagen zu werden, würden also jedes Jahr über 30.000 Amerikaner weniger sterben und die Krankenhauskosten für die Behandlung von 84.000 Schußverletzten belaufen sich in den USA jährlich auf mehr als eine halbe Milliarde Dollar. Für Frauen scheinen Waffen übrigens, ganz ähnlich wie Religionen, besonders gefährlich zu sein: 46 Amerikanerinnen werden jeden Monat (!) von ihren aktuellen oder ehemaligen Partnern erschossen und die Wahrscheinlichkeit, im Zuge häuslicher Gewalt getötet zu werden, ist für eine Amerikanerin um 500% höher, wenn eine Waffe zugegen ist sowie die Wahrscheinlichkeit für eine Amerikanerin, erschossen zu werden, 1100% höher als in anderen Industrienationen ist. Man weiß auch inzwischen, daß allein der Besitz und das Aufbewahren von Schußwaffen daheim mit höherer Wahrscheinlichkeit, erschossen zu werden [1] und sich selbst damit umzubringen [2] korreliert ist, das heißt, daß eine solche Waffe eben keinen Schutz bietet, sondern das genaue Gegenteil.
Angesichts solcher Zahlen – am 14. Juni, 2 Tage nach dem Orlando-Massaker sprach die AMA sogar von einer „Krise der öffentlichen Gesundheit“ – sollte man meinen, daß in einem solchermaßen betroffenen Land ein Proteststurm der Bevölkerung resultieren und unverzüglich horrende Summen für die Erforschung des Problems, seines Ausmaßes, seiner Ursprünge, seiner Auswirkungen und seiner Beseitigung aufgewendet würden. Damit läge man jedoch, zumindest bei den USA, gründlich falsch, wo inzwischen seit zwei Jahrzehnten und zuletzt anläßlich einer Initiative im Dezember 2015 nach dem Attentat in San Bernardino öffentlich geförderte Forschung, z.B. durch das CDC, zu Schußwaffen und deren Einsatz in Gewaltdelikten vom Kongreß blockiert werden, natürlich auf Betreiben der mächtigen NRA und anderer Lobbyisten.
2013 hatte Obama bereits explizit betont, daß solche Forschung notwendig ist und nicht als Parteinahme gegen Waffenbesitzer angesehen werden sollte, worauf immerhin das NIH, das etwas freier als das CDC über seine Mittel entscheiden kann, begann, kleinere Forschungsprojekte zu diesem Thema zu fördern. Spätestens aber seit der Greueltat von Orlando scheint noch mehr Amerikanern ein genereller Umdenkprozeß zwingend erforderlich zu sein und die AMA, die viertgrößte Lobby der USA, könnte für diesen Prozeß entscheidend sein.
Kürzlich hat sich nun und zumindest auf Bundesstaatenebene das auch ansonsten recht liberale und fortschrittliche (s. Legalisierung von Cannabis und Homo-Ehe) Kalifornien vorgewagt und das „California Firearm Violence Research Center“ gegründet, welches nun erst einmal 5 Jahre lang mit 1 Mio. $ pro Jahr finanziert wird. Das Zentrum wird sich auf interdisziplinäre Forschung konzentrieren, um Evidenz hervorzubringen, auf die solide politische Programme zur Eindämmung von Schußwaffengewalt gegründet werden und die vielleicht als Anreiz für politische Initiativen auf Bundesebene dienen können. Von besonderem Interesse ist hierbei die Frage, warum in Kalifornien und offenbar nur dort seit 2000 die Zahl der Schußwaffentoten um 20% gesunken ist und ob Kalifornien diesbezüglich als einziges etwas richtig oder aber nicht falsch macht.
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