https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AFly_August_2007-4.jpg  By Alvesgaspar (Own work) [GFDL (https://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) or CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons from Wikimedia Commons

Lucilia Sericata https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AFly_August_2007-4.jpg
By Alvesgaspar (Own work) [GFDL (https://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) or CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons from Wikimedia Commons

Die forensische Entomologie, von der hier im Blog auch gelegentlich schon die Rede war, befaßt sich mit der wissenschaftlichen Untersuchung von Insekten im Zusammenhang mit rechtlich relevanten Sachverhalten, die meist Menschen, Haus- und/oder Wildtiere betreffen. Die Inspizierung, Identifikation und Analyse von Insekten(larven), die etwa von menschlichen Leichen oder sterblichen Überresten bzw. von Tat- oder Sterbeorten gesammelt werden, können unter Anwendung entomologischer Kenntnisse über die Arten und Entwicklungsstadien der gefundenen Insekten sowie der Kenntnis relevanter meteorologischen Parameter (v.a. des Temperaturverlaufs in der Umgebung der Leiche) wichtige Anhaltspunkte für die Rekonstruktion der Todesumstände liefern, darunter Erkenntnisse zum Zeitpunkt und Ort des Todes.

Der forensisch-entomologischen Zeitbestimmung, die das minimale Postmortem-Intervall (mPMI) schätzen soll, liegt dabei die Annahme zugrunde, daß zwar unmittelbar aber eben auch frühestens nach dem Tod die Eiablage (=Kolonisation) durch Insekten auf der Leiche erfolgt. Das heißt, der errechnete Zeitraum (über eine besonders coole, weil genexpressionsbasierte Methode dieser Berechnung berichtete ich hier schon) zwischen Insektenstadium bei Auffindung und Eiablage entspricht dann dem mPMI.

Es gibt jedoch ein Phänomen, Myiasis genannt, welches die Insektenbesiedlung lebender Menschen bzw. Tiere bezeichnet, das sich als sehr problematisch für die forensisch-entomologische PMI-Schätzung erweisen kann. Dies wird illustriert durch einen Fall, über den italienische Kollegen neulich im Journal  of Forensic Sciences berichteten [1]:

Im Juli wird eine 84-jährige, die an Bluthochdruck und Schilddrüsenüberfunktion litt, bewußtlos auf dem Rücken liegend im Garten ihres Hauses in einem Florentiner Vorort von einem Rettungsteam gefunden. Ihre Nachbarn hatten sie das letzte Mal vor fünf Tagen gesehen. Schon bei der ersten Untersuchung fiel der starke Madenbefall im Gesicht der Patientin auf, v.a. an den Bindehäuten, in den Nasenlöchern, im Mund und den äußeren Gehörgängen. Eine wunde Stelle im unteren Rückenbereich wies auf eine längere Liegezeit hin, darüber hinaus hatte sie keinerlei äußere Verletzungen, wies jedoch Sonnenverbrennungen I. und II. Grades an unbedeckten Körperstellen auf. Im CT zeigten sich Anzeichen einer linksseitigen Hirnblutung, die Druck auf den linkslateralen Ventrikel ausübte und höchstwahrscheinlich die Ursache für den Sturz und die Bewußtlosigkeit gewesen war. Eine genauere körperliche Untersuchung  mittels Endoskopie zeigte, daß der Madenbefall auch auf die Bronchien, Rektum und Vagina ausgedehnt war. Im Ohr hatten die Maden die Trommelfelle durch Fressaktivitäten mehrfach perforiert. Zwei Monate später starb die Patientin an Tetanus, obwohl ihr im Zuge der Hospitalisierung noch eine Booster-Impfung verabreicht worden war.

Von den Maden waren mehrere Exemplare gesichert, abgetötet und konserviert worden, die zur Begutachtung einem forensischen Entomologen geschickt wurden, der sie lege artis [2] untersuchte und die Larven als zur Familie der Calliphoridae gehörig identifizierte und die Art Lucilia sericata erkannte. Die Analyse verfügbarer meteorologischer Daten ergab, daß am Fundort der Patientin eine Durchschnittstemperatur von 28°C (min 22°C, max 35°C) geherrscht hatte. Davon ausgehend wurde das Alter der Maden als 1,5-2,5 Tage berechnet [3]. L. sericata ist eine weit verbreitete Fliegenart und gehört zu den häufigsten Leichenbesiedlern in der warmen Jahreszeit. Im Jahr 2010 etwa war sie auf 30 % der in Norditalien aufgefundenen Leichen identifiziert worden [4]. Sie und andere Arten der Gattung Lucilia sind zudem bekannt als myiasogen in Menschen und anderen Wirbeltieren (s. z.B. [5]).

Ist der Mensch betroffen, unterscheidet man zwischen zwei Formen: als spezifische Myiasis bezeichnet man den Befall durch Insekten, deren Larven für ihre Entwicklung tatsächlich auf einen lebenden Wirt angewiesen sind. Halb-spezifische Myiasis wird hingegen von Insekten verursacht, die gewöhnlich totes/verwesendes organisches Material, gelegentlich aber auch lebende Organismen, vorzugsweise in Wunden, besiedeln.

Die häufigsten Insektenarten, die mit halb-spezifischer Myiasis assoziiert sind, gehören zu den Gattungen Calliphora, Lucilia und Sarcophaga, typische Kandidaten für forensisch-entomologische Analysen. Diese können sich allerdings auch mit lebenden Menschen, meist kleinen Kindern oder hilflosen Alten, befassen, wo es nicht um die Frage des mPMI, sondern um strafrechtlich relevante Vernachlässigung geht. Die Untersuchung der Maden aus den Wunden und Gangränen dieser Patienten erlaubt dann den Nachweis der Vernachlässigung aber auch die Bestimmung des Zeitraums, den diese mindestens angehalten hat. Das kann auch relevant für die Feststellung und rechtliche Beurteilung nosokomialer Myiasis sein.

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Kommentare (12)

  1. #1 Jenni
    04/06/2017

    meine Gedanken hierzu:
    danke fürs schreiben und
    definitiv igitt.
    Ich geh jetzt sehr lange duschen.

  2. #2 gedankenknick
    07/06/2017

    @Jenni
    *kicher* Na das mit der prämortalen Besiedelung kannte ich schon. Hat mir eine Kollegin erzählt, die vor der Wende mit einem Landarzt über die Dörfer jwd (für alle NichtBerliner “janz weit draußen”) Hausbesuche gemacht hat. Da wurde dann schon mal eine Beinwunde gereinigt und neu verbunden, die sich (nach Entfernung des “Altverbands”, so man das so nennen konnte) nicht bloß noir & nekrös, sondern auch zusätzlich schon quicklebendig präsentierte.

    Das Erstaunen, dass der fragliche Patient nicht zwischendurch an einer Sepsis postmortal wurde, war auf Seiten des Landarztes wohl nicht ganz ohne…

  3. #3 tomtoo
    07/06/2017

    @gedackenknick

    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Madentherapie

    Bischen makaber sry.

  4. #4 noch'n Flo
    Schoggiland
    07/06/2017

    Eben original Made in Italy.

  5. #5 zimtspinne
    07/06/2017

    das mit der Osteomyelitis und Maden verstehe ich gerade nicht, das ist doch eine KNochenmarksentzündung und dazu auch noch “abgeschlossen” von außen, auch sehr schwer für Antibiotika erreichbar… wie werden denn dort die lebendigen Viecher eingesetzt?
    Ich frage mich auch eh, was für eine Leidensbereitschaft manche Menschen doch so mitbringen, wenn ich mir die alten Verbände, wahrscheinlich auch nicht gereinigte Wunden und damit auch noch im Stall arbeiten.. so vorstelle. In einem zivilisierten Land vor ein paar Jahrzehnten. Es gibt einfach mehr zwischen Himmel und Hölle als man sich vorstellen kann^^

  6. #6 tomtoo
    07/06/2017

    @Zimtspinne

    Bin kein Wissenschaftler. Aber die Maden bevorzugen wohl Krankes Gewebe. Evtl. nutzen sie wohl “chemische Kampfstoffe” um sich gegenüber anderen Mitessern durchzusetzen. Welch Auswirkungen diese Stoffe wohl noch so alle im Körper haben ? Spannendes Thema.

  7. #7 zimtspinne
    08/06/2017

    ja, dass die Maden nekrotisches Gewebe futtern und vitales am Leben lassen, ist schon klar….
    aber die brauchen doch auch Sauerstoff dazu, und man muss sie ja auch irgendwie auf die Wunde aufbringen.
    Bei der Osteomyelitis findet die Entzündung ja innerlich, im Knochen, statt und da frage ich mich, wie die Maden dann dort erstens hingeschleust werden und zweitens ihr Werk ohne Sauerstoff im Knochengewebe verrichten sollen.
    Vielleicht brechen die Entzündungen ja irgendwann nach außen durch und dann kommen die Maden zum Einsatz.
    Ich würde mich ja lieber einer Hirnoperation unterziehen als Maden, Blutegel oder gar Bandwürmer (Bandwurmdiät!) an meinen göttlichen Körper zu lassen 😀
    Ich würde aber auch eher hungern als Gewürm zu essen. Das geht echt gar nicht, auch nicht gegrillt, frittiert oder in Schnaps eingelegt. Igitt³

  8. #8 Laie
    09/06/2017

    Sollte die Goldfliege nicht ausschliessliche nekrotisches Gewebe fressen? Ansonsten, igitt!

  9. #9 tomtoo
    09/06/2017

    @Laie

    Wie es im Leben halt so ist. Auch ne Goldfliegenlarve bekommt nicht immer nur Leckerlies.

  10. #10 Hummel
    19/06/2017

    @zimtspinne
    Ich kenne das nur vom Mundraum her: dort liegt bei einer ordentlichen Osteomyelitis der Knochen normalerweise offen.

  11. #11 anderer Michael
    20/06/2017

    Osteomyelitis und Madentherapie.
    Verstehe ich auch nicht. Die Stärke der Madentherapie soll sein ,nekrotische Anteile bei Wunden zu essen. Ein Einsatzgebiet ist Ulcus Crucis infolge chronisch vénöser Insuffizienz oder offener Dekubitus. Ein chronische Osteomyelitis kann so ausgedehnt sein, dass Entzündungen und Nekrosen auch sichtbar sind. Vielleicht ist es so gemeint.
    Die Madentherapie wurde inzwischen relativiert.Die Säuberung der Wunden geht schneller und effizienter, der Wundverschluß dauert aber genau so lang wie bei herkömmlicher Behandlung ( nach den bisherigen wenigen Studien).

  12. #12 zimtspinne
    20/06/2017

    Sind das nicht wahnsinnige Schmerzzustände, wenn der Knochen offen liegt? Ist das überhaupt aushaltbar?

    Ach so, im Mundraum generell stelle ich mir die Madentherapie auch schwierig vor, an die Kieferosteomyelitis hatte ich gar nicht so direkt gedacht, eben wegen Mundraumproblematik mit Maden^^