Der forensisch-entomologischen Zeitbestimmung, die das minimale Postmortem-Intervall (mPMI) schätzen soll, liegt dabei die Annahme zugrunde, daß zwar unmittelbar aber eben auch frühestens nach dem Tod die Eiablage (=Kolonisation) durch Insekten auf der Leiche erfolgt. Das heißt, der errechnete Zeitraum (über eine besonders coole, weil genexpressionsbasierte Methode dieser Berechnung berichtete ich hier schon) zwischen Insektenstadium bei Auffindung und Eiablage entspricht dann dem mPMI.
Es gibt jedoch ein Phänomen, Myiasis genannt, welches die Insektenbesiedlung lebender Menschen bzw. Tiere bezeichnet, das sich als sehr problematisch für die forensisch-entomologische PMI-Schätzung erweisen kann. Dies wird illustriert durch einen Fall, über den italienische Kollegen neulich im Journal of Forensic Sciences berichteten [1]:
Im Juli wird eine 84-jährige, die an Bluthochdruck und Schilddrüsenüberfunktion litt, bewußtlos auf dem Rücken liegend im Garten ihres Hauses in einem Florentiner Vorort von einem Rettungsteam gefunden. Ihre Nachbarn hatten sie das letzte Mal vor fünf Tagen gesehen. Schon bei der ersten Untersuchung fiel der starke Madenbefall im Gesicht der Patientin auf, v.a. an den Bindehäuten, in den Nasenlöchern, im Mund und den äußeren Gehörgängen. Eine wunde Stelle im unteren Rückenbereich wies auf eine längere Liegezeit hin, darüber hinaus hatte sie keinerlei äußere Verletzungen, wies jedoch Sonnenverbrennungen I. und II. Grades an unbedeckten Körperstellen auf. Im CT zeigten sich Anzeichen einer linksseitigen Hirnblutung, die Druck auf den linkslateralen Ventrikel ausübte und höchstwahrscheinlich die Ursache für den Sturz und die Bewußtlosigkeit gewesen war. Eine genauere körperliche Untersuchung mittels Endoskopie zeigte, daß der Madenbefall auch auf die Bronchien, Rektum und Vagina ausgedehnt war. Im Ohr hatten die Maden die Trommelfelle durch Fressaktivitäten mehrfach perforiert. Zwei Monate später starb die Patientin an Tetanus, obwohl ihr im Zuge der Hospitalisierung noch eine Booster-Impfung verabreicht worden war.
Von den Maden waren mehrere Exemplare gesichert, abgetötet und konserviert worden, die zur Begutachtung einem forensischen Entomologen geschickt wurden, der sie lege artis [2] untersuchte und die Larven als zur Familie der Calliphoridae gehörig identifizierte und die Art Lucilia sericata erkannte. Die Analyse verfügbarer meteorologischer Daten ergab, daß am Fundort der Patientin eine Durchschnittstemperatur von 28°C (min 22°C, max 35°C) geherrscht hatte. Davon ausgehend wurde das Alter der Maden als 1,5-2,5 Tage berechnet [3]. L. sericata ist eine weit verbreitete Fliegenart und gehört zu den häufigsten Leichenbesiedlern in der warmen Jahreszeit. Im Jahr 2010 etwa war sie auf 30 % der in Norditalien aufgefundenen Leichen identifiziert worden [4]. Sie und andere Arten der Gattung Lucilia sind zudem bekannt als myiasogen in Menschen und anderen Wirbeltieren (s. z.B. [5]).
Ist der Mensch betroffen, unterscheidet man zwischen zwei Formen: als spezifische Myiasis bezeichnet man den Befall durch Insekten, deren Larven für ihre Entwicklung tatsächlich auf einen lebenden Wirt angewiesen sind. Halb-spezifische Myiasis wird hingegen von Insekten verursacht, die gewöhnlich totes/verwesendes organisches Material, gelegentlich aber auch lebende Organismen, vorzugsweise in Wunden, besiedeln.
Die häufigsten Insektenarten, die mit halb-spezifischer Myiasis assoziiert sind, gehören zu den Gattungen Calliphora, Lucilia und Sarcophaga, typische Kandidaten für forensisch-entomologische Analysen. Diese können sich allerdings auch mit lebenden Menschen, meist kleinen Kindern oder hilflosen Alten, befassen, wo es nicht um die Frage des mPMI, sondern um strafrechtlich relevante Vernachlässigung geht. Die Untersuchung der Maden aus den Wunden und Gangränen dieser Patienten erlaubt dann den Nachweis der Vernachlässigung aber auch die Bestimmung des Zeitraums, den diese mindestens angehalten hat. Das kann auch relevant für die Feststellung und rechtliche Beurteilung nosokomialer Myiasis sein.
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