Häufig spielen menschliche Zeugen eine wichtige Rolle, wenn vor Gericht anhand von deren Schilderungen der genaue Hergang etwa einer Straftat rekonstruiert werden soll. Oft entscheiden dann sogar die Aussagen von Zeugen über das Urteil des Gerichts und damit über Freiheit, Gefängnis oder gar – in zivilisatorisch abständigeren Ländern – Tod für angeklagte Personen.
Das ist höchst problematisch, wenn man bedenkt, wie sagenhaft schlecht oder sagen wir ungeeignet für die angestrebte Funktion, nämlich eine objektive, wirklichkeitsgetreue, non-selektive und ohne persönliche Einfärbung auskommende Abspeicherung und Widergabe von Wahrnehmungen, das menschliche Gehirn ist.
Es gibt ganze Vorlesungsreihen und Bücher (ich empfehle sehr [2]) über kognitive Verzerrungen, Sinnestäuschungen, selektive Gedächtnisbildung etc., die belegen, wie leicht sich Menschen täuschen, irreführen, verwirren und beeinflussen lassen, wie viel sie vergessen, nachträglich erfinden, uminterpretieren, übersehen, verzerren und unbewußt falsch wiedergeben. Eine besonders bekannte Illustration dafür ist diese:
Die Unzuverlässigkeit und Subjektivität menschlicher Zeugen ist einer der Gründe, warum ich mich im Rahmen meiner eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit u.a. damit befasse, (in meinem Fall RNA-basierte) Methoden zu erforschen, die eine nur auf objektiven, physikalischen Belegen gründende Rekonstruktion von Tataspekten ermöglichen und ohne menschliche Zeugen auskommen.
Eine andere Methode, die die subjektive menschliche Wahrnehmung und Erinnerung scheinbar ersetzen kann, ist der Videobeweis. Im Zeitalter von Überwachungskameras, allgegenwärtigen, filmenden Smartphones und selbst an Polizisten befestigten Kameras gibt es immer öfter von immer mehr Straftaten Aufnahmen und Mitschnitte. Wenn aber von einer Tat bzw. einem Tathergang eine Videoaufzeichnung existiert, die sich nicht verändert und die man jederzeit und so oft wie nötig anschauen kann, dann ist doch eine objektive Beurteilung derselben sicher gestellt. Oder?
Offenbar nicht. Denn, wie Caruso et al. jetzt in PNAS berichteten [1], scheint das Betrachten von Videoaufnahmen in Zeitlupe die Wahrnehmung der vermeintlichen Absichtlichkeit einer Handlung, ihrer Intentionalität, zu beeinflussen. Warum ist das bedeutsam? Für die moralische Bewertung und juristische Beurteilung einer Handlung und damit das Ausmaß der Verantwortlichkeit der handelnden Person ist es entscheidend, ob sie in der Wahrnehmung des Gerichts mit (einer bestimmten) Absicht vollführt wurde oder nicht.
Daß es bei dieser Absichtswahrnehmung wirklich um Leben und Tod geht, läßt sich am Fall von John Lewis belegen, der im Jahr 2009 wegen Mordes ersten Grades in Pennsylvania zum Tode verurteilt worden war, nachdem die Staatsanwaltschaft Videoaufnahmen des Tathergangs (Lewis erschießt einen Polizisten bei einem bewaffneten Raubüberfall) in Zeitlupe präsentiert hatte und daraufhin die Jury, dem Plädoyer der Anklage gefolgt war, die ein absichtsvolles statt reflexives und mit einer Beurteilung als Mord zweiten Grades und „nur“ mit lebenslanger Haft bedrohtes Verhalten als erwiesen ansah. Bei der Anfechtung des Todesurteils wurde auf die Auswirkung der Vorführung des Videos in Zeitlupe verwiesen, worauf die Anklage erwiderte, daß die Jury das Video in Zeitlupe und normaler Geschwindigkeit gesehen habe und demnach keiner kognitiven Verzerrung unterliege. Das oberste Gericht bestätigte das erstinstanzliche Urteil, die ursprünglich auf den 18.6.14 angesetzte Hinrichtung wurde jedoch ausgesetzt, um alle eventuellen Gründe für die Anfechtung des Urteils prüfen zu können [3].
Genau mit solchen möglichen Gründen befaßt sich die vorliegende Arbeit, in der in vier Teilstudien 489, 580, 410 und 905 Probanden verschiedene Videoaufnahmen in normaler und Zeitlupen-Geschwindigkeit vorgeführt und sie um eine Einschätzung der Intentionalität der dargestellten Handlungen gebeten wurden.
Die Autoren gingen davon aus, daß der entscheidende Unterschied in der Wahrnehmung von Videoabspielungen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten die subjektiv wahrgenommene Zeit ist, die die handelnde Person für ihre Entscheidung, auf die dargestellte Weise, zu handeln, hatte. In Zeitlupenwiedergaben scheint diese Zeit länger zu sein, was der Person also scheinbar mehr Zeit gibt, eine Entscheidung zu fällen, was reflexhaftes Handeln weniger und absichtsvolles Handeln mehr wahrscheinlich erscheinen läßt. Dafür spricht, daß die Abschätzung von Zeitintervallen zwischen Individuen schwankt und von der jeweiligen Situation, von ablenkenden Einflüssen und der Heuristik, also dem Prozeß, den eine Person zur Zeitabschätzung anwendet, abhängt und daß diese mentalen Abschätzprozesse anfällig für die Beeinflussung durch die gegebenen Umstände sind. Hinzukommt, daß Menschen, selbst wenn sie auf eine mögliche Beeinflussung ihrer Wahrnehmung, etwa durch eine Vorführung in Zeitlupe, hingewiesen werden, sie häufig keine ausreichende Korrektur für diese Beeinflussung vornehmen.
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